Tor 21: Täpperwien

Den Autoren des heutigen Textes hinter Tor 21 brauche ich eigentlich nicht vorstellen, denn ich habe ihn schon an anderer Stelle lobend erwähnt. Den Lesern unserer Blog- und Presseschauen war er auch vorher schon ein Begriff – schließlich finden seine Textkunstwerke regelmäßig den Weg in die Liste der Lektüretipps.

Herausstellen möchte ich an dieser Stelle deshalb nur, dass ich es überragend finde, dass Heinz Kamke es geschafft hat neben der Bestückung seines eigenen Adventskalenders auch für den Fokus Fussball Adventskalender „Advent in fünf Zeilen“ sein Fußballerlebnis des Jahres 2012 in Worte gefasst hat:

Mein »Fußballerlebnis des Jahres« war keines. Nicht im engeren Sinne. Vielleicht nicht einmal im weiteren, ich kenne die Grenzverläufe nicht so genau. Es war vielmehr ein Twittererlebnis. Ein kleines Facebookerlebnis. Und ein wenig wohl auch noch ein Presseerlebnis.

Schon höre ich die Stimmen, nicht zuletzt meine eigene, die ebenso lautstark wie zurecht beklagen, dass die Berichterstattung nicht zum „Event“ werden dürfe, dass das Ereignis selbst im Mittelpunkt der Betrachtung stehen müsse, und im Hinterkopf haben wir selbstgefällig auftretende Fernsehexperten, und Moderatoren, die sich mit der nicht zu bewältigenden Aufgabe konfrontiert sehen, die achtstündige Vorberichterstattung zu einem Fußballspiel in Würde zu bestreiten.

Das meine ich nicht. Mein Fußballerlebnis 2012 ist ein Twittererlebnis, weil der Gedanke des Spiels, weil der faire sportliche Wettstreit an jenem 27. September bei Twitter gleichermaßen bitter wie beispielhaft im Vordergrund stand, weil mich die Fußballfans, ich kann es nicht anders sagen, berührten. Es war der Morgen, an dem die Nachricht von Leon Andreasens Kreuzbandriss Gewissheit wurde.

Wir alle – vielleicht übertreibe ich – hatten uns tief vor ihm verneigt angesichts seines mehr als bemerkenswerten Comebacks nach wasweißichwielanger Verletzungszeit, nachdem wir uns alle – vielleicht übertreibe ich – schon damals, als er 2007 in Mainz brillierte, in ihn verliebt hatten. Nun schien er also endlich wieder auf dem besten Weg, sich als einer der komplettesten Mittelfeldspieler der Liga zu etablieren, als torgefährlicher Defensivstratege, der das Spiel verstanden hat. Vielleicht übertreibe ich. Aber ich bezweifle es.

Der fünfte Bundesligaspieltag der laufenden Saison war für ihn nach wenigen Minuten beendet, und im Rückblick fällt es mir schwer, zu glauben, dass es sich tatsächlich erst um den fünften Spieltag handelte – hatte er bis dahin nicht bereits wettbewerbsübergreifend gefühlte 15 Tore erzielt, eines schöner als das andere? Übertreibe ich? War er nicht eine der prägenden Figuren der Saison gewesen? In nur drei Spielen?

Nun denn, offensichtlich war die Saison wirklich noch sehr jung. Nach anderthalb Tagen der Ungewissheit und vielfältiger – durchweg negativer bis fatalistischer – Spekulationen wurde dann an besagtem 27. September (die Älteren werden sich erinnern, dass Gerhard Schröder an einem 27. September zum Kanzler gewählt wurde, die Jüngeren und die Älteren sich erfolglos fragen, was diese Information hier zu suchen hat) zur Gewissheit, dass sich Andreasen erneut schwer und langwierig verletzt hatte.

Die ersten Tweets trudelten herein, und ihnen allen wohnte eine Erschütterung inne, wie man sie sonst nur von wesentlich gravierenderen Ereignissen kennt – die dann meist rasch von unglaublich schlechten Witzen flankiert werden. Über Andreasen wurden keine Witze gemacht. Ungeachtet aller Sympathien und Vereinszugehörigkeiten – vielleicht übertreibe ich – konnte man allenthalben ungläubiges Kopfschütteln, echtes Mitgefühl, tiefes Bedauern herauslesen. Norddeutsche Rivalitäten bleiben außen vor. Wäre der Grund nicht so ein bitterer gewesen, man hätte ein wenig in sich hineinlächeln können.

Und ich lächelte ein wenig in mich hinein. Twitter ist nicht immer ein Ort für Zartbesaitete. Gerade beim Fußball. Dortmunder werfen Münchnern wechselweise Arroganz und Empfindlichkeit vor, Münchner unterstellen Dortmundern Großmäuligkeit und mimimi. Kommentatoren und Schiedsrichter sind, je nach Blickwinkel des Betrachters, grundsätzlich für oder gegen Mannschaft X, Marcel Reif ist sowohl Bayern-Hasser als auch Bayern-Liebhaber, die Plastikclubs und Emporkömmlinge haben sich jeden Witz auf ihre Kosten redlich verdient, was wollen bitte diese kleinen bayerischen Mannschaften, wenn man doch lieber wieder echte Bundesligisten oben sähe, Sie wissen schon. Manchmal rutschen die Unterhaltungen ein wenig unter die Gürtellinie, es ist emotional, hitzig, gelegentlich unfair.

Bei Leon Andreasens Verletzung spielte das alles keine Rolle. Niemand, zumindest niemand in meiner Timeline, ließ mich wissen, dass er doch ohnehin überbewertet und ein Arsch sei, keiner freute sich öffentlich über die gestiegenen Chancen des eigenen Vereins, der vielleicht kurz darauf gegen Hannover antreten musste, irgendwie war man, wie soll ich sagen, solidarisch. Mitfühlend. Und machte sich gemeinsam auf die Suche nach einem Schuldigen. Mit Erfolg: Coldplay war’s.
Vielleicht übertreibe ich.

Gerne würde ich in zwölf Monaten bei den Fußballerlebnissen des Jahres etwas über ein großartiges Tor des wie Phoenix aus der Asche zurückgekehrten Leon Andreasen lesen.

(Gerne übrigens auch an diesem Ort.)

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