Nach den vergangenen Spieltagen in der Bundesliga wird das Prinzip der Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters verschiedentlich infrage gestellt – nicht zum ersten Mal. Ist es tatsächlich unzeitgemäß geworden? Worauf basiert es eigentlich? Und inwieweit wird es durch den Videobeweis beeinflusst?
Thomas Tuchel hat sich auf einer Pressekonferenz am vergangenen Montag ordentlich in Rage geredet. Es habe einen »schon beinahe tragischen Beigeschmack, wenn wir einen Spieler verlieren und über 50 Minuten in Hoffenheim in Unterzahl spielen, der dann nachweislich nichts getan hat«, sagte der Trainer von Borussia Dortmund mit Blick auf die Gelb-Rote Karte, die Marco Reus bei der Auswärtspartie des BVB im Kraichgau erhalten hatte. Wenn der Spieler dann auch noch gesperrt bleibe, so Tuchel weiter, habe das »auf jeden Fall absurde Züge«. Es fühle sich »für uns ein bisschen so an, als wirst du vom Kaufhausdetektiv beim Ladendiebstahl erwischt, und durch die Kamera stellt sich raus, du hast gar nichts geklaut, gehst dann aber trotzdem eine Woche in den Bau, weil der Detektiv halt gedacht hat, er hat’s gesehen und dann ist das halt so«.
Auch auf zwei andere Fälle aus den vergangenen Wochen ging der Coach ein, nämlich auf die Schwalbe des Leipzigers Timo Werner beim Spiel gegen Schalke 04 am 13. Spieltag, die vom Schiedsrichter unerkannt blieb und in einen Strafstoß für den Aufsteiger nur 20 Sekunden nach dem Anpfiff mündete, sowie auf den ungeahndeten Ellenbogenschlag des Frankfurters David Abraham gegen den Hoffenheimer Sandro Wagner eine Woche später. Tuchel ärgerte sich darüber, »dass Spieler, die eine Schwalbe machen und das nachweislich aufgedeckt wird, dann trotzdem am nächsten Spieltag spielen« und dass »mittlerweile Ellenbogenschläge dazugehören zum Spiel und der Spieler spielt dann trotzdem weiter«. Deshalb sei es absurd, dass sein Team nun für ein Spiel auf Reus verzichten müsse, »wenn jede Kamera beweist, dass er nichts getan hat«.
Tuchels Wutrede war de facto ein Plädoyer gegen die Tatsachenentscheidung, die im Fußball ein so hohes Gut ist, dass sie sogar im Regelwerk festgeschrieben wurde, genauer gesagt: in der Regel 5 (»Der Schiedsrichter«). Dort heißt es: »Die Entscheidungen des Schiedsrichters zu Tatsachen im Zusammenhang mit dem Spiel sind endgültig.« Zu diesen Tatsachen gehören beispielsweise die Entscheidung auf »Tor« oder »kein Tor« und das Ergebnis des Spiels, aber auch die Entscheidung, ob ein Foul- oder Handspiel vorliegt, das einen Frei- oder Strafstoß nach sich zieht, sowie die Entscheidung, eine Verwarnung oder einen Feldverweis auszusprechen.
Was diesbezüglich zur Tatsache wird, legt also der Referee fest, und zwar – auch das steht in der Regel 5 – »basierend auf seiner Einschätzung« sowie »nach bestem Wissen und Gewissen im Sinne der Spielregeln und im ›Geist des Fußballs‹«. Der Terminus »Tatsachenentscheidung« deutet somit, wie es im entsprechenden Wikipedia-Eintrag treffend heißt, »nicht auf eine von niemandem bestrittene, unumstößliche Tatsache [hin], sondern darauf, dass ein dazu Berechtigter etwas als eine Tatsache ansieht, die aber nicht unbedingt so geschehen sein muss.«
Die Wahrheit is‘ aufm Platz – oder etwa nicht?
Aus alledem folgt mehrerlei: Der Unparteiische verfügt auf dem Platz über die unumschränkte Macht, er ist gleichsam Polizist, Staatsanwalt und Richter in Personalunion, während die Mannschaften keinerlei Einspruchsrecht haben. Maßgeblich für seine Urteile sind seine Wahrnehmung und seine Einschätzung, die notwendig etwas Subjektives haben, zumal sie beispielsweise vom jeweiligen Standort des Schiedsrichters (und damit von seinem Blickwinkel) und teilweise auch von seiner Regelauslegung, also seinem Ermessen beeinflusst werden, vor allem bei Zweikämpfen und Handspielen, die oftmals keine Frage von Schwarz und Weiß sind, sondern viele Grautöne haben.
Dennoch schafft jede Entscheidung eine unverrückbare Tatsache (auch aus einem Grau wird dann also zwangsläufig Schwarz oder Weiß) und bekommt damit die Weihen des Objektiven. Dass daraus Konflikte resultieren und dass es zu Ungerechtigkeiten kommt, liegt in der Natur der Sache, schon weil Schiedsrichter eben Menschen sind, die auslegungsbedürftige Spielräume unterschiedlich interpretieren und selbstverständlich auch Fehler begehen – insbesondere, wenn sie Geschehnisse in Sekundenbruchteilen beurteilen müssen.
Warum die Tatsachenentscheidung dennoch eine Art heilige Kuh ist, hat wiederum Wikipedia gut auf den Punkt gebracht: »Um das Regelwerk von Sportarten praktisch anwenden zu können, ist es notwendig, dass Entscheidungen von Schiedsrichtern sofort wirksam werden, ohne dass ein Wettkampfteilnehmer dagegen Einspruch erheben kann oder eine Entscheidung nachträglich in irgendeiner Form widerrufen wird.« Oder, um ein Zitat der 2003 verstorbenen Dortmunder Legende Adi Preißler zu zweckentfremden: »Entscheidend is‘ aufm Platz.«
Ausnahmen von der Regel
Wollte man alle Urteilssprüche des Referees unmittelbar auf den Prüfstand stellen, bedürfte das nicht nur eines erheblichen personellen (und technischen) Aufwandes – der im Amateurbereich gar nicht zu leisten wäre –, es würde das Spiel auch ganz erheblich verzögern und zerfasern. Und schüfe man grundsätzliche Einspruchsmöglichkeiten nach dem Abpfiff, dann hätte das eine Verlagerung von Streitigkeiten in die Säle der Spruchkammern und Sportgerichte zur Folge. Niemand wüsste nach dem Ende einer Partie mehr, was Sache ist und Bestand behält. Außerdem würde die Autorität des Schiedsrichters nachhaltig untergraben – mit heftigen Folgen.
Hans E. Lorenz, der Vorsitzende des DFB-Sportgerichts, hat deshalb einmal in einem lesenswerten Interview des Sportportals »Spox« gesagt: »Würde die Sportgerichtsbarkeit, im Bemühen um objektive Gerechtigkeit, jede Schiedsrichterentscheidung annullieren, korrigieren oder verbessern, ginge das an unserer Aufgabe vorbei. Wir sind kein Reparaturbetrieb für falsche Schiedsrichterentscheidungen. […] Wir alle müssen damit leben, dass der Schiedsrichter auch einmal eine falsche Tatsachenentscheidung trifft, bis auf wenige Ausnahmen.« Diese Ausnahmen betreffen vor allem den sogenannten offensichtlichen Irrtum des Unparteiischen, der beispielsweise vorliegt, wenn die Nummer sechs einen Gegner schlägt, der Referee aber die Nummer acht vom Platz stellt. In einem solchen – sehr seltenen – Fall erfolgt normalerweise ein Freispruch.
Eine weitere Ausnahme ist der Regelverstoß, der sich von der falschen Tatsachenentscheidung dadurch unterscheidet, dass der Schiedsrichter eine Begebenheit richtig feststellt, darauf aber die Regeln vorschriftswidrig anwendet. Ein Beispiel: Ein Elfmeter wird verwandelt, doch ein Mitspieler des Schützen war deutlich zu früh in den Strafraum eingedrungen; der Unparteiische stellt das auch fest, ordnet aber nicht die vorgesehene Wiederholung an, sondern spricht dem Gegner einen indirekten Freistoß zu. Mit anderen Worten: Eine falsche Tatsachenentscheidung beruht auf einer falschen Einschätzung (die eine Folge der Wahrnehmung einer Situation durch den Referee ist), ein Regelverstoß auf einer Schwäche bei der Regelkenntnis.
Die Folgen des technischen Fortschritts
Nun lässt sich mit Recht einwenden, dass der Fußball sich im Laufe der Jahrzehnte extrem verändert hat, vor allem im Profibereich. In früheren Jahren hat schon deshalb kaum jemand das Prinzip der Tatsachenentscheidung grundsätzlich infrage gestellt, weil den Schiedsrichtern ohnehin nur selten Fehler zweifelsfrei nachzuweisen waren. Dafür fehlten schlicht die technischen Mittel. Inzwischen ist das bekanntlich vollkommen anders: Jede Spielszene, jede Entscheidung kann aus einer Vielzahl von Kameraperspektiven noch einmal begutachtet werden, in Superzeitlupe, in Standbildern sowie mit Ausschnittvergrößerungen. Und zwar zeitnah.
Das hat mit den Jahren dazu geführt, dass sich die Stimmen derer mehrten, die fragten: Warum bleibt den Unparteiischen verwehrt, was die Fernsehzuschauer – und mittlerweile auch die Fans im Stadion via Smartphone – in Anspruch nehmen können? Weshalb muss eine nachweisliche Fehlentscheidung bestehen bleiben, wenn fast alle außer dem Referee es längst besser wissen? Die FIFA, die UEFA, das IFAB und viele nationale Verbände haben darauf reagiert, indem sie erst die Schiedsrichter-Teams mit Vierten Offiziellen und Torrichtern verstärkten – mehr Augen sehen schließlich mehr – und dann die Technik Einzug halten ließen: Erst kam die Torlinientechnologie, nun wird der Videobeweis getestet.
Die Tatsachenentscheidung als solche wird dadurch nicht angetastet (ob das auch für die Autorität des Spielleiters auf dem Feld gilt, bleibt abzuwarten), denn das letzte Wort behält der Schiedsrichter. Nach Elfmeterentscheidungen (und strafstoßverdächtigen Szenen), Roten Karten (und platzverweisverdächtigen Situationen) und Toren sowie bei einer drohenden Spielerverwechslung im Zuge von persönlichen Strafen unterstützt ihn dort, wo der Videobeweis eingesetzt wird, ein Video-Assistent. Die endgültige Entscheidung trifft aber weiterhin der Referee selbst. Korrigiert werden dürfen nur, so steht es in den Richtlinien des IFAB für den Videobeweis, unzweifelhaft – also unauslegbar – falsche Entscheidungen.
Bezogen auf die von Thomas Tuchel angeführten Beispiele hieße das: Die »Schwalbe« von Timo Werner wäre durch den Videobeweis aufgedeckt worden, den Strafstoß für RB Leipzig hätte der Unparteiische anschließend zurückgenommen. Der Ellenbogenschlag von David Abraham hätte zu einer Roten Karte geführt. Marco Reus dagegen hätte die Videotechnik nichts genützt, denn sie kommt nur bei »glatt« Roten Karten zum Einsatz, nicht aber bei Gelb-Roten (was nicht so bleiben muss). Abgesehen davon lag in diesem Fall auch keine eindeutig falsche Entscheidung vor, denn wie man den körperbetonten Zweikampf zwischen Reus und Nadiem Amiri bewertet, ist letztlich eine Auslegungssache. Deshalb wäre für den Fall, dass eine solche Tatsachenentscheidung vor dem Sportgericht angefochten werden könnte, ein Freispruch auch keineswegs ausgemacht.
Die Auswirkungen auf den Amateurbereich
Ungeachtet dessen stellt sich die Frage, ob die Tatsachenentscheidung tatsächlich, wie Rainer Franzke in der Printausgabe des »Kicker« vom 12. Dezember 2016 fand, »ein Relikt von vorgestern« ist. In der Bundesliga soll die für 2017/18 geplante Einführung des Videobeweises dafür sorgen, dass klare Fehler der Schiedsrichter – also falsche Tatsachenentscheidungen – mit potenziell spielveränderndem oder gar spielentscheidendem Charakter umgehend korrigiert werden. Über die Frage, was als klar anzusehen ist, dürfte es gleichwohl bisweilen heftige Diskussionen geben (womöglich sogar in den Schiedsrichter-Teams selbst). Da hülfe aber auch keine übergeordnete Instanz inhaltlich weiter.
Auf den Amateurbereich hätte eine Aufweichung oder gar Abschaffung des Prinzips der Tatsachenentscheidung – die es nur über einen massiven Eingriff ins Regelwerk geben könnte – dramatische Auswirkungen. Böte man dort die Möglichkeit zu umfassenden Einsprüchen gegen die Entscheidungen des Schiedsrichters – etwa auf der Grundlage von Amateurvideos –, dann zöge das eine wahre Flut von Spruchkammersitzungen nach sich. Man könnte davon ausgehen, dass zahlreiche Unparteiische sich das nicht lange antun würden und dass neue Schiedsrichter deshalb noch schwerer zu gewinnen wären, als das jetzt schon der Fall ist. Nicht zuletzt aus diesen Gründen ist kaum anzunehmen, dass das IFAB am Prinzip der Tatsachenentscheidung rühren wird. Und das ist auch gut so.
Es wird interessant zu beobachten sein, ob die Einführung des Videobeweises die Kluft zwischen dem bezahlten und dem Amateurfußball weiter vertiefen und diesem Sport damit noch mehr von seinem egalitären Moment nehmen wird. Im höchstklassigen Profibereich wird er die unter Beschuss geratene Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters vermutlich wieder stärken, weil er zeitnahe Korrekturmöglichkeiten eröffnet. Bei den Amateuren, aber auch schon unterhalb der jeweils obersten Liga wird es diese Möglichkeit dagegen nicht geben, was die Unparteiischen noch mehr unter Druck setzen dürfte – und den Ruf laut werden lassen könnte, wenigstens nach dem Spiel Einspruchsoptionen zu eröffnen. Zumindest aus der Schiedsrichterperspektive kann man deshalb nur hoffen, dass das IFAB standhaft und die Wahrheit grundsätzlich aufm Platz bleibt.
Das sind alles sehr sinnvolle Gedanken. Was mir aber schwer fällt:
Ich finde nicht, dass die Autorität des Schiedsrichters darob in Frage gestellt wird, dass eine andere Instanz seine Entscheidung kraft erweiterten Faktenwissen und mehr Zeit aufhebt. Das ist für mich ganz im Gegenteil Ausdruck dessen, was Du sonst – aus meiner Sicht völlig zu Recht – so oft bemängelst. Nämlich einer fehlenden Fehlerkultur.
Aus einer hervorragenden Spielleitung wird aus meiner Sich keine schlechtere Spielleitung, weil eine Entscheidung, die die Spielleitung auf Grund der ihr – auf Grund ihrer Wahrnehmung – zur Verfügung stehenden Faktenlage völlig korrekt getroffen hat, später revidiert wird. Das sehen ja z.B. Amtsrichter (hoffentlich) auch nicht anders.
Das betrifft, wie gesagt, ausschließlich diesen einen Kritikpunkt. Der andere von Dir genannte Kritikpunkte deswegen nicht abschwächt.
Aus meiner Sicht drängt sich seit Jahren folgende Lösung auf: Immer dann, wenn sowieso später eine Spruchkammer über eine Rechtsfolge zu entscheiden hat, dann darf sie in dieser ersten Sportgerichtsinstanz auch vollumfänglich über den Sachverhalt Beweis erheben. Wie sie es jetzt übrigens auch schon tut – primär anhand der Schilderung des Schiedsrichters. Und dann aber der ausgesprochenen Rechtsfolge sowohl ihre eigene Regelinterpretation, als auch ihre eigene Tatsachenwahrnehmung zu Grunde legen.
Das muss gar kein solches Monster werden, wie das jetzt klingt, wenn man dem einige einfache Regeln an die Hand gibt. Zum einen: Als Quelle für Wahrnehmungen des Sportgerichts sind nur solche zulässig, die ein Mindestmaß an Objektivität besitzen. Das sind zunächst mal die des Schiedsrichter-Teams. Sodann die Bilder der Sky-Übertragungen. Das ist ein Vertragspartner der DFL, damit mittelbar auch des DFB und also auch seiner Sportgerichtsbarkeit. Ob die Bilder aussagekräftig sind, ob also ein sinnvoller Blickwinkel vorliegt, eine Zeitlupe das Geschehen eher verfälscht oder ob ein Bild wirklich an der zweifelsfrei richtigen Stelle „eingefroren“ wurde – diesen Aufwand zu leisten bzw. diese Expertise ran zu schaffen, das ist dem DFB aus meiner Sicht schon zumutbar.
Und damit ist der Amateurfußball aus dem Schneider. Dort gibt es solche objektiven Quellen nämlich nicht. Irgendwelche Amateurvideos von Fans sind das aus meiner Sicht jedenfalls nicht. Sky (bzw. dessen Vertragspartner, der die Bilder herstellt) kann vom DFB über die DFL vertraglich verpflichtet werden, die Bilder unbearbeitet und ohne Auslassungen abzuliefern (müsste man natürlich auch machen). Gegenüber Handyfilmern geht das gar nicht. Also bleibt es – wie bisher – beim Bericht des Schiedsrichters und – entsprechend gewertet – der Beteiligten.
Und zum Zweiten muss man genau das ernst nehmen: Immer dann, wenn sowieso später eine Spruchkammer über eine Rechtsfolge zu entscheiden hat. Das ist derzeit nämlich ganz sinnvoll geregelt. Wie hoch eine Sperre nach einer roten Karte ist, darüber wird entschieden (es kann nur in der Regel nicht auf 0 entschieden werden). Es gibt aber keine Entscheidung über die Spielwertung wegen der roten Karte. Das mag man als Wertungswiderspruch ansehen, weil die Spielwertung doch viel wichtiger ist als die Sperre. Andererseits könnte man dann auch einführen, dass eine Spruchkammer grundsätzlich über die Punktevergabe zu entscheiden hat: Soll es wirklich 3 volle Punkte geben, wenn man zwar 1:0 gewonnen, aber nicht ein einziges Mal selber aufs Tor geschossen hat? Nein, das soll bitte nicht bewertet werden. Aber die individuelle Konsequenz des individuellen Tuns von beteiligten Individuen, die wird auch bisher schon sportgerichtlich verhandelt. Das ist als Aufgabenbeschreibung für mich sehr in Ordnung.
Und wenn man diesen Schritt gewagt hat, dann kann man aus meiner Sicht auch Verhaltensweisen zur Ahndung bringen, die der Schiedsrichter zu gering geahndet hat. Die berühmte Rote Karte statt einer auf dem Platz verhängten Gelben. Dazu müsste natürlich die Kompetenz der Anklageinstanz dahingehend geschaffen oder ausgeweitet werden (mir unklar, ob der derzeitige Kontrollausschuss das leisten kann), dass sie Spiele unabhängig beobachtet und eindeutige Auffälligkeiten später der Sportgerichtsbarkeit zuführt. Auch hier finde ich, dieser Aufwand ist dem deutschen Profifußball zuzumuten. Den Amateurfußball davon zu verschonen ist wiederum sehr einfach, indem man schlicht festlegt, welche Spiele diese Anklageinstanz zu überwachen hat. Das wären derzeit sinnvollerweise die Ligen, in denen ausnahmslos alle Spiele eine umfassende Bildaufzeichnung erfahren, bei denen man den Aufzeichner auch vertraglich zur unbearbeiteten Herausgabe verpflichten kann, also die Erste und Zweite Bundesliga.
Meine Güte. Das schaffen doch auch ganz andere Ligen. Ich will gar nicht mit der NHL anfangen (die wirtschaftlich wohl auch nicht so viel besser als die DFL da steht).
Und um den Bogen zurück zu spannen: Ich sehe nicht, wie dies die Autorität des Schiedsrichters untergräbt. Die Wahrheit bleibt ja auf dem Platz. Um beim Beispiel der sich später als falsch herausstellenden Roten Karte zu bleiben – die Hinausstellung auf dem Platz bleibt wirksam. Die Entscheidung war und bleibt im Lichte der Tatsachenwahrnehmungen, die der Spielleitung zur Verfügung standen, richtig. Und das Spiel wurde völlig regelkonform ohne diesen Spieler zu Ende ge- und einer Spielwertung zugeführt.
Wenn für einen nicht genau genug gesehenen Ellenbogenschlag nachträglich eine Sperre ausgesprochen wird, wenn eine klar falsche Hinausstellung später keine Sperre nach sich zieht (btw: Herr Tuchel scheint andere Sender zu sehen als ich) oder wenn in einer denkbaren Zukunft für eine nicht erkannte, geschickte Schwalbe nachträglich eine Sperre ausgesprochen wird, weil in dieser Zukunft die Regeln für eine Schwalbe eine Rote Karte vorsehen (BTW: Nicht nur Herrn Tuchel möchte ich seit Wochen einen Blick ins Regelwerk anempfehlen), dann ist damit doch keine Wertung der Wahrnehmungskompetenzen der Spielleitung verbunden. Das wäre doch sehr, sehr anmaßend.
Und wem das nicht gegeben ist, zu unterscheiden zwischen der späteren Bewertung eines Spruchkörpers und der unmittelbaren Bewertung der Spielleitung, der ist gewissermaßen sowieso verloren. Der regt sich heute auf und der regt sich auch morgen auf.
Das kann man doch mal mit einem Lob verbinden: Dass ich mich nicht aufrege, das liegt zu einem nicht zu unterschätzendem Anteil an Eurer Arbeit. Vielleicht wäre das völlig unabhängig von der Frage, ob und in welchem Umfang die Entscheidungen des Schiedsrichters später in einem geordneten Verfahrenswege angegriffen werden können, für die Autorität des Schiedsrichters auf dem Platz sehr viel entscheidender, wie die unmittelbar Beteiligten und die Medien dessen Entscheidungen und seine Rahmenbedingungen erklären.
Das erinnert mich an diese Bemerkung von @Surfin_Bird. Die Frage der Gültigkeit von Tatsachenfeststellungen des Schiedsrichters ist meines Erachtens nämlich nichts anderes als die Erkenntnis, dass Rechtssicherheit und materielle Gerechtigkeit sich gegeneinander ausschließende Werte sind, zwischen denen immer eine Abwägung erfolgen muss. Das ist etwas, was vom im Justizwesen Beschäftigten und den mit der Beobachtung derselben beschäftigten Medien seltsamerweise auch im normalen Leben unfassbar schlecht vermittelt wird. Dabei ist die Erklärung total einfach: Wenn Du Dein Geschirr abwäscht, benutzt Du dann Spüli – und stellst es dann als „gereinigt“ in den Schrank? Oder lässt Du es in der Uni-Klinik sterilisieren und danach elektronenmikroskopisch auf Rückstände untersuchen? Eh?
Meine Abwägung kommt nach den bisherigen länglichen Ausführungen zu einem anderem Ergebnis als Deine. Sie mit dem Aspekt der Autorität des Schiedsrichters zu belasten finde ich allerdings überzogen. Das kann sie nicht leisten. Die Beteiligen beugen sich freiwillig einer dritten Autorität, damit diese Ihr Spiel leitet. Dann sollen sie das bitte auch tun. Oder meinetwegen auch lassen, der Fußball ist ja auch ohne Schiedsrichter denkbar. Die Autorität dieses Dritten ist davon abhängig, dass er das Spiel besser leitet, als die Beteiligten ohne ihn. Dazu sollte er einem Regelwerk stringent folgen. Wie das ausgestaltet ist, ist für diese Autorität aus meiner Sicht sekundär. Und wer anderes behauptet, der stellt die Entscheidung für eine dritte Autorität an sich in Frage. Kann er ja machen, aber dann soll er das auch tun. Und wir, die wir das anders sehen, die wir beim Fußball ganz gerne eine dritte Autorität mit der Spielleitung betreut sehen, wir sollten ihm auf diesem Weg zu einem astreinen Strohpuppen-Argument nicht auch noch aus vorauseilendem Gehorsam folgen.
Ceterum censeo: Im Übrigen hinterlässt mich jede Diskussion über die Qualität der Spielleitung im Profifußball mit einem mitleidigen Kopfschütteln, solange dieses Milliarden Euro schwere Teil der Unterhaltungsindustrie es immer noch für angemessen hält, auf diesem großen Spielfeld (und seiner dichten Besetzung mit ziemlich gewieften, moralisch grenzwertig agierenden Vollprofis) mit 1 Hauptschiedsrichter auf dem Platz und je 1 Assistenten pro Seitenlinie plus 1 starr positionierten und auch anderweitig gebundenem Vierten Offiziellen aus zu kommen.
Ich weiß, damit nerve ich seit Jahren alle. Weil ich das beim Eishockey nun mal anders gewöhnt bin. Anekdoten-Time: Ich war zufällig dieses Wochenende Zuschauer eines Spiels einer Freizeit-Liga im völlig unbedeutendem Eisstadion Neukölln. Freizeit-Liga heißt mehr oder weniger: Die Leute, für die selbst in der Mannschaft der Totenliga (=aus der man nicht mehr absteigen kann) kein Platz ist. Und weil das nicht Fußball war, sondern Eishockey, deswegen gab es selbstredend zwei ordentliche Schiedsrichter. Die natürlich die mit Abstand besten Leute auf dem Eis waren (und auch die besten Schlittschuhläufer, aber das nur am Rande). Ich bin mir sicher, einer hätte auch gereicht. Wäre das Abseits halt nicht immer so zweifelsfrei gepfiffen worden (wobei ich das bei dem Tempo auch mit Bier und Kippe in der Hand von der Tribüne aus konnte).
Und damit bin ich aufgewachsen. In jeder traurigen Kinderliga hatte ich mindestens zwei ordentlich ausgebildete Schiedsrichter auf dem Platz. Das ist einfach das Mindestmaß. Und wer so aufwächst, der entwickelt zum Begriff Tatsachenentscheidung eine völlig andere Sichtweise (nicht, dass ich nicht oft genug schimpfte, aber halt privat).
Man mag jetzt einwenden, dass der Fußball ja so wahnsinnig viel omnipräsenter ist und für die derzeitigen Maßstäbe ja schon kaum genug Schiedsrichter besitzt. Ja und? Das Eishockey hat einen entsprechend viel kleineren Pool an Interessierten und schafft das ja auch, pro Quadratmeter Eisfläche eine ausreichende Anzahl an Schiedsrichtern anzukarren. Weil man das muss, sonst darf man nicht mitmachen. Das geht also anscheinend. Muss man sich anstrengen.
Und natürlich ist auch das Hockey nicht die Insel der Glücksseeligen. Puh, was sind die Refs verhasst. Und was schimpfen die Fans. Aber komischerweise wird ihre Autorität während des Spiels von den Beteiligten niemals in Frage gestellt. Trotz Videobeweis während und nach dem Spiel in den dafür geeigneten Ligen.
Ich danke dir sehr für deine ausführlichen und klugen Gedanken! Wenn ich irgendwie Zeit finde, scheibe ich hier noch was dazu, ansonsten nehmen wir’s mit in den Podcast (was wahrscheinlicher ist). Einverstanden?
Kleine Ergänzung noch. Du schreibst:
„Sky (bzw. dessen Vertragspartner, der die Bilder herstellt) kann vom DFB über die DFL vertraglich verpflichtet werden, die Bilder unbearbeitet und ohne Auslassungen abzuliefern (müsste man natürlich auch machen).“
Afaik werden die Übertragungen der 1. und 2. Bundesliga von Sportcast produziert. Sportcast ist eine 100-prozentige Tochter der deutschen Fußballliga. Sky und die anderen Fernsehanstalten kaufen praktisch das fertige TV-Signal von Sportcast.
Somit hat die DFL ohnehin vollständige Kontrolle über die Bilder und kann auch genau festlegen was, wie, in welchem Umfang aufgenommen wird und welche Bilder die Sportgerichtsbarkeit zu sehen bekommt.
Das ist vielleicht auch ganz interessant im Hinblick auf den Videobeweis. Da ist man somit auch nicht auf die zur Verfügung gestellten Bilder eines Dritten angewiesen.
Sportcast ist eine DFL-Tochter? Ach.
Das macht die Sache natürlich noch einfacher.
Einverstanden? Natürlich nicht. Weder hier, noch im Podcast. Meine Äußerungen stehen für sich allein!
Aber wenn Du trotzdem antwortest (wo auch immer), dann kann ich da wohl nichts gegen machen …