Nach den vergangenen Spieltagen in der Bundesliga wird das Prinzip der Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters verschiedentlich infrage gestellt – nicht zum ersten Mal. Ist es tatsächlich unzeitgemäß geworden? Worauf basiert es eigentlich? Und inwieweit wird es durch den Videobeweis beeinflusst?
Thomas Tuchel hat sich auf einer Pressekonferenz am vergangenen Montag ordentlich in Rage geredet. Es habe einen »schon beinahe tragischen Beigeschmack, wenn wir einen Spieler verlieren und über 50 Minuten in Hoffenheim in Unterzahl spielen, der dann nachweislich nichts getan hat«, sagte der Trainer von Borussia Dortmund mit Blick auf die Gelb-Rote Karte, die Marco Reus bei der Auswärtspartie des BVB im Kraichgau erhalten hatte. Wenn der Spieler dann auch noch gesperrt bleibe, so Tuchel weiter, habe das »auf jeden Fall absurde Züge«. Es fühle sich »für uns ein bisschen so an, als wirst du vom Kaufhausdetektiv beim Ladendiebstahl erwischt, und durch die Kamera stellt sich raus, du hast gar nichts geklaut, gehst dann aber trotzdem eine Woche in den Bau, weil der Detektiv halt gedacht hat, er hat’s gesehen und dann ist das halt so«.
Auch auf zwei andere Fälle aus den vergangenen Wochen ging der Coach ein, nämlich auf die Schwalbe des Leipzigers Timo Werner beim Spiel gegen Schalke 04 am 13. Spieltag, die vom Schiedsrichter unerkannt blieb und in einen Strafstoß für den Aufsteiger nur 20 Sekunden nach dem Anpfiff mündete, sowie auf den ungeahndeten Ellenbogenschlag des Frankfurters David Abraham gegen den Hoffenheimer Sandro Wagner eine Woche später. Tuchel ärgerte sich darüber, »dass Spieler, die eine Schwalbe machen und das nachweislich aufgedeckt wird, dann trotzdem am nächsten Spieltag spielen« und dass »mittlerweile Ellenbogenschläge dazugehören zum Spiel und der Spieler spielt dann trotzdem weiter«. Deshalb sei es absurd, dass sein Team nun für ein Spiel auf Reus verzichten müsse, »wenn jede Kamera beweist, dass er nichts getan hat«.
Tuchels Wutrede war de facto ein Plädoyer gegen die Tatsachenentscheidung, die im Fußball ein so hohes Gut ist, dass sie sogar im Regelwerk festgeschrieben wurde, genauer gesagt: in der Regel 5 (»Der Schiedsrichter«). Dort heißt es: »Die Entscheidungen des Schiedsrichters zu Tatsachen im Zusammenhang mit dem Spiel sind endgültig.« Zu diesen Tatsachen gehören beispielsweise die Entscheidung auf »Tor« oder »kein Tor« und das Ergebnis des Spiels, aber auch die Entscheidung, ob ein Foul- oder Handspiel vorliegt, das einen Frei- oder Strafstoß nach sich zieht, sowie die Entscheidung, eine Verwarnung oder einen Feldverweis auszusprechen.
Was diesbezüglich zur Tatsache wird, legt also der Referee fest, und zwar – auch das steht in der Regel 5 – »basierend auf seiner Einschätzung« sowie »nach bestem Wissen und Gewissen im Sinne der Spielregeln und im ›Geist des Fußballs‹«. Der Terminus »Tatsachenentscheidung« deutet somit, wie es im entsprechenden Wikipedia-Eintrag treffend heißt, »nicht auf eine von niemandem bestrittene, unumstößliche Tatsache [hin], sondern darauf, dass ein dazu Berechtigter etwas als eine Tatsache ansieht, die aber nicht unbedingt so geschehen sein muss.«
Die Wahrheit is‘ aufm Platz – oder etwa nicht?
Aus alledem folgt mehrerlei: Der Unparteiische verfügt auf dem Platz über die unumschränkte Macht, er ist gleichsam Polizist, Staatsanwalt und Richter in Personalunion, während die Mannschaften keinerlei Einspruchsrecht haben. Maßgeblich für seine Urteile sind seine Wahrnehmung und seine Einschätzung, die notwendig etwas Subjektives haben, zumal sie beispielsweise vom jeweiligen Standort des Schiedsrichters (und damit von seinem Blickwinkel) und teilweise auch von seiner Regelauslegung, also seinem Ermessen beeinflusst werden, vor allem bei Zweikämpfen und Handspielen, die oftmals keine Frage von Schwarz und Weiß sind, sondern viele Grautöne haben.
Dennoch schafft jede Entscheidung eine unverrückbare Tatsache (auch aus einem Grau wird dann also zwangsläufig Schwarz oder Weiß) und bekommt damit die Weihen des Objektiven. Dass daraus Konflikte resultieren und dass es zu Ungerechtigkeiten kommt, liegt in der Natur der Sache, schon weil Schiedsrichter eben Menschen sind, die auslegungsbedürftige Spielräume unterschiedlich interpretieren und selbstverständlich auch Fehler begehen – insbesondere, wenn sie Geschehnisse in Sekundenbruchteilen beurteilen müssen.
Warum die Tatsachenentscheidung dennoch eine Art heilige Kuh ist, hat wiederum Wikipedia gut auf den Punkt gebracht: »Um das Regelwerk von Sportarten praktisch anwenden zu können, ist es notwendig, dass Entscheidungen von Schiedsrichtern sofort wirksam werden, ohne dass ein Wettkampfteilnehmer dagegen Einspruch erheben kann oder eine Entscheidung nachträglich in irgendeiner Form widerrufen wird.« Oder, um ein Zitat der 2003 verstorbenen Dortmunder Legende Adi Preißler zu zweckentfremden: »Entscheidend is‘ aufm Platz.«
Ausnahmen von der Regel
Wollte man alle Urteilssprüche des Referees unmittelbar auf den Prüfstand stellen, bedürfte das nicht nur eines erheblichen personellen (und technischen) Aufwandes – der im Amateurbereich gar nicht zu leisten wäre –, es würde das Spiel auch ganz erheblich verzögern und zerfasern. Und schüfe man grundsätzliche Einspruchsmöglichkeiten nach dem Abpfiff, dann hätte das eine Verlagerung von Streitigkeiten in die Säle der Spruchkammern und Sportgerichte zur Folge. Niemand wüsste nach dem Ende einer Partie mehr, was Sache ist und Bestand behält. Außerdem würde die Autorität des Schiedsrichters nachhaltig untergraben – mit heftigen Folgen.
Hans E. Lorenz, der Vorsitzende des DFB-Sportgerichts, hat deshalb einmal in einem lesenswerten Interview des Sportportals »Spox« gesagt: »Würde die Sportgerichtsbarkeit, im Bemühen um objektive Gerechtigkeit, jede Schiedsrichterentscheidung annullieren, korrigieren oder verbessern, ginge das an unserer Aufgabe vorbei. Wir sind kein Reparaturbetrieb für falsche Schiedsrichterentscheidungen. […] Wir alle müssen damit leben, dass der Schiedsrichter auch einmal eine falsche Tatsachenentscheidung trifft, bis auf wenige Ausnahmen.« Diese Ausnahmen betreffen vor allem den sogenannten offensichtlichen Irrtum des Unparteiischen, der beispielsweise vorliegt, wenn die Nummer sechs einen Gegner schlägt, der Referee aber die Nummer acht vom Platz stellt. In einem solchen – sehr seltenen – Fall erfolgt normalerweise ein Freispruch.
Eine weitere Ausnahme ist der Regelverstoß, der sich von der falschen Tatsachenentscheidung dadurch unterscheidet, dass der Schiedsrichter eine Begebenheit richtig feststellt, darauf aber die Regeln vorschriftswidrig anwendet. Ein Beispiel: Ein Elfmeter wird verwandelt, doch ein Mitspieler des Schützen war deutlich zu früh in den Strafraum eingedrungen; der Unparteiische stellt das auch fest, ordnet aber nicht die vorgesehene Wiederholung an, sondern spricht dem Gegner einen indirekten Freistoß zu. Mit anderen Worten: Eine falsche Tatsachenentscheidung beruht auf einer falschen Einschätzung (die eine Folge der Wahrnehmung einer Situation durch den Referee ist), ein Regelverstoß auf einer Schwäche bei der Regelkenntnis.
Die Folgen des technischen Fortschritts
Nun lässt sich mit Recht einwenden, dass der Fußball sich im Laufe der Jahrzehnte extrem verändert hat, vor allem im Profibereich. In früheren Jahren hat schon deshalb kaum jemand das Prinzip der Tatsachenentscheidung grundsätzlich infrage gestellt, weil den Schiedsrichtern ohnehin nur selten Fehler zweifelsfrei nachzuweisen waren. Dafür fehlten schlicht die technischen Mittel. Inzwischen ist das bekanntlich vollkommen anders: Jede Spielszene, jede Entscheidung kann aus einer Vielzahl von Kameraperspektiven noch einmal begutachtet werden, in Superzeitlupe, in Standbildern sowie mit Ausschnittvergrößerungen. Und zwar zeitnah.
Das hat mit den Jahren dazu geführt, dass sich die Stimmen derer mehrten, die fragten: Warum bleibt den Unparteiischen verwehrt, was die Fernsehzuschauer – und mittlerweile auch die Fans im Stadion via Smartphone – in Anspruch nehmen können? Weshalb muss eine nachweisliche Fehlentscheidung bestehen bleiben, wenn fast alle außer dem Referee es längst besser wissen? Die FIFA, die UEFA, das IFAB und viele nationale Verbände haben darauf reagiert, indem sie erst die Schiedsrichter-Teams mit Vierten Offiziellen und Torrichtern verstärkten – mehr Augen sehen schließlich mehr – und dann die Technik Einzug halten ließen: Erst kam die Torlinientechnologie, nun wird der Videobeweis getestet.
Die Tatsachenentscheidung als solche wird dadurch nicht angetastet (ob das auch für die Autorität des Spielleiters auf dem Feld gilt, bleibt abzuwarten), denn das letzte Wort behält der Schiedsrichter. Nach Elfmeterentscheidungen (und strafstoßverdächtigen Szenen), Roten Karten (und platzverweisverdächtigen Situationen) und Toren sowie bei einer drohenden Spielerverwechslung im Zuge von persönlichen Strafen unterstützt ihn dort, wo der Videobeweis eingesetzt wird, ein Video-Assistent. Die endgültige Entscheidung trifft aber weiterhin der Referee selbst. Korrigiert werden dürfen nur, so steht es in den Richtlinien des IFAB für den Videobeweis, unzweifelhaft – also unauslegbar – falsche Entscheidungen.
Bezogen auf die von Thomas Tuchel angeführten Beispiele hieße das: Die »Schwalbe« von Timo Werner wäre durch den Videobeweis aufgedeckt worden, den Strafstoß für RB Leipzig hätte der Unparteiische anschließend zurückgenommen. Der Ellenbogenschlag von David Abraham hätte zu einer Roten Karte geführt. Marco Reus dagegen hätte die Videotechnik nichts genützt, denn sie kommt nur bei »glatt« Roten Karten zum Einsatz, nicht aber bei Gelb-Roten (was nicht so bleiben muss). Abgesehen davon lag in diesem Fall auch keine eindeutig falsche Entscheidung vor, denn wie man den körperbetonten Zweikampf zwischen Reus und Nadiem Amiri bewertet, ist letztlich eine Auslegungssache. Deshalb wäre für den Fall, dass eine solche Tatsachenentscheidung vor dem Sportgericht angefochten werden könnte, ein Freispruch auch keineswegs ausgemacht.
Die Auswirkungen auf den Amateurbereich
Ungeachtet dessen stellt sich die Frage, ob die Tatsachenentscheidung tatsächlich, wie Rainer Franzke in der Printausgabe des »Kicker« vom 12. Dezember 2016 fand, »ein Relikt von vorgestern« ist. In der Bundesliga soll die für 2017/18 geplante Einführung des Videobeweises dafür sorgen, dass klare Fehler der Schiedsrichter – also falsche Tatsachenentscheidungen – mit potenziell spielveränderndem oder gar spielentscheidendem Charakter umgehend korrigiert werden. Über die Frage, was als klar anzusehen ist, dürfte es gleichwohl bisweilen heftige Diskussionen geben (womöglich sogar in den Schiedsrichter-Teams selbst). Da hülfe aber auch keine übergeordnete Instanz inhaltlich weiter.
Auf den Amateurbereich hätte eine Aufweichung oder gar Abschaffung des Prinzips der Tatsachenentscheidung – die es nur über einen massiven Eingriff ins Regelwerk geben könnte – dramatische Auswirkungen. Böte man dort die Möglichkeit zu umfassenden Einsprüchen gegen die Entscheidungen des Schiedsrichters – etwa auf der Grundlage von Amateurvideos –, dann zöge das eine wahre Flut von Spruchkammersitzungen nach sich. Man könnte davon ausgehen, dass zahlreiche Unparteiische sich das nicht lange antun würden und dass neue Schiedsrichter deshalb noch schwerer zu gewinnen wären, als das jetzt schon der Fall ist. Nicht zuletzt aus diesen Gründen ist kaum anzunehmen, dass das IFAB am Prinzip der Tatsachenentscheidung rühren wird. Und das ist auch gut so.
Es wird interessant zu beobachten sein, ob die Einführung des Videobeweises die Kluft zwischen dem bezahlten und dem Amateurfußball weiter vertiefen und diesem Sport damit noch mehr von seinem egalitären Moment nehmen wird. Im höchstklassigen Profibereich wird er die unter Beschuss geratene Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters vermutlich wieder stärken, weil er zeitnahe Korrekturmöglichkeiten eröffnet. Bei den Amateuren, aber auch schon unterhalb der jeweils obersten Liga wird es diese Möglichkeit dagegen nicht geben, was die Unparteiischen noch mehr unter Druck setzen dürfte – und den Ruf laut werden lassen könnte, wenigstens nach dem Spiel Einspruchsoptionen zu eröffnen. Zumindest aus der Schiedsrichterperspektive kann man deshalb nur hoffen, dass das IFAB standhaft und die Wahrheit grundsätzlich aufm Platz bleibt.