Tor 2: Phantomtor

adventskalenderDas Leben als Sportreporter scheint ein unbeschwertes zu sein. Man sitzt in überdachten Fußballstadien, darf tolle Spiele verfolgen und sogar das Catering in den Pressebereichen hat sich in den letzten Jahren wohl ordentlich verbessert.

Dass so ein Arbeitstag aber auch schnell richtig stressig werden kann, wenn sich die Ereignisse ob Niemalsdagewesenem überschlagen, zeigt Stefan Klüttermann von der Rheinischen Post mit seinem Fußballerlebnis des Jahres 2013 hinter Tor 2:

Ich soll also über „Mein Fußballerlebnis 2013“ schreiben. Kein Problem, sollte man meinen, schließlich habe ich ja – soweit man meinem Umfeld glauben darf – den tollsten Job der Welt, weil ich dienstlich Fußball gucken muss. Und natürlich ist die Auswahl groß an Momenten, die mir meine wöchentliche Tour mit Bayer Leverkusen durch Bundesliga und (Europa-)Pokal beschert hat: Da war mein erster Besuch in Old Trafford (ja, schön, aber mit der Magie ist es schnell vorbei, wenn einem die Realität der Medientribüne so wenig Platz lässt, dass es im vergleichbaren Fall kaum zum Etikett „Freilaufende Hühner“ gereicht hätte.) Da war Bayers 2:3 gegen Dortmund im Frühjahr, eines der besten Bundesligaspiele, über das ich bislang berichtet habe. Da war Stefan Reinartz, der sich im Trainingslager in Österreich geschlagene zwei Stunden Zeit für ein Gespräch nahm, um mit mir über das Image des Vereins zu reflektieren. Aber wenn ich ehrlich sein soll, was mich – Stand heute – in meinem Fußballjahr am meisten beschäftigt hat, lande ich dann doch wieder beim Phantom-Tor von Sinsheim.

Ich hatte mich riesig auf das Freitagabendspiel der Werkself bei 1899 Hoffenheim gefreut. Weniger wegen der 300 Kilometer durch den Wochenendstau nach Sinsheim, als viel mehr auf die Ausicht, tags drauf den ersten (und bis zum 15. Dezember auch einzigen) spielfreien Samstag eines Leverkusen-Reporters in dieser Hinrunde zu haben. Zur Klarstellung: Samstage im Stadion sind etwas Tolles, aber Samstage nicht im Stadion sind ungemein förderlich, was die Teilnahme am sozialen Leben außerhalb der Fußballszene angeht.

Also saß ich an diesem Abend um kurz vor 22 Uhr auf meinem (in Sinsheim sensationell nah am Platz verorteten) Platz auf der Pressetribüne und werkelte eifrig an meinem Text, der mit Abpfiff quasi in der Redaktion zu sein hat, weil der Andruck in Sichtweite kommt. Es stand bekanntlich 1:0 für Bayer, als der Kopfball eines gewissen Stefan Kießling vielleicht 50 Meter halblinks von mir ans Außennetz ging. Na ja, das kann ich zumindest als Torchance in den Text aufnehmen, dachte ich. Doch Momente später schoss ein gewisser Simon Rolfes denselben Ball, der doch im Toraus gelandet war, per Nachschuss ins Tor, und Schiedsrichter Dr. Felix Brych schien wirklich auf Tor entscheiden zu wollen. „Der war doch nicht drin. Hallo?“, rief ich meinen Kollegen neben mir fassungslos zu. „Quatsch, der war drin, du musst mal genau hingucken“, schallte es zurück. Dann erschien die Zeitlupe der Szene auf den Monitoren, die auf den Presseplätzen befestigt sind, und mein erster Gedanke war reflexartig: „Ach du Scheiße, so eine Scheiße!“.

Ja, es mag durchaus Kollegen geben, die realisieren binnen Sekunden, dass sie soeben Teil eines historischen Moments der Sportgeschichte geworden sind und sie nun zu den Auerwählten zählen, die priveligiert sind, darüber auch noch zu berichten. Mein Hirn arbeitete per Autopilot erst einmal in eine andere Richtung. Ja, ich begriff auch, dass das hier ab sofort kein „Wen interessiert der Text zu Hoffenheim gegen Bayer eigentlich so brennend?“-Text mehr würde, sondern ein „großes Ding“. Ein großes Ding, das – so legte es mir mein Gehirn nahe – ohne Zweifel dazu taugte, mir in den verbleibenden 20 Spielminuten bis zur Abgabe des Textes Stress in hohen Dosen zu verschaffen, weil ich schließlich eben diesen Text komplett neu schreiben musste. Aber meine Synapsen hinter der Schädeldecke produzierten vor allem einen Gedanken: Dein freier Samstag ist passé!

Der Weg vom Hirn zum Mund ist nicht weit in solchen Momenten, also sagte ich das laut, was mir spontan in den Sinn kam: „So eine Scheiße, kann sowas nicht bei Augsburg gegen Nürnberg passieren? Warum passiert sowas in einem Spiel von Leverkusen?“ Bayers Co-Trainer Jan-Moritz Lichte und Pressesprecher Dirk Mesch, die beide rechts von mir auf der Presstribüne saßen, guckten mich etwas verwundert an. Wer wollte es ihnen verdenken? Ich nicht.

In den folenden 20 Minuten war raumgreifendes Denken dann eher ein Luxus, es ging vor allem ums Schreiben. „Wann war noch mal das Helmer-Tor?“, war wohl der in diesen Momenten meistgebrüllte Satz unter uns Kollegen in Sinsheim. Dann ratterten alle mit den Fingern auf ihren Tastaturen, dass die Tasten selbst wohl schon eine Anzeige wegen Körperverletzung vorbereiteten. 20 Minuten Stakkato. Akkordarbeit der Fingerkuppen. Buchstaben im Vollsprint. (Die Tatsache, dass Sportjournalisten gewohnt sind, unter Zeitdruck zu schreiben, führt dazu, dass in den Journalistenseminaren „Schreiben unter Druck“ kaum Sportjournalisten sitzen).

Mit dem Abschicken des Textes endete Phase eins des Phantom-Tor-Tages, der um kurz vor 22 Uhr begonnen hatte. Phase zwei spielte sich in der Mixed Zone ab und im Pressekonferenzraum. Das ist ein anderer Arbeitsdruck. Einer, an dem Telefongesellschaften gut verdienen, weil wir Kollegen vor Ort alle zwei Minuten neue Statements, Infos und Entwicklungen in die Redaktion zu Hause durchtelefonieren. An dieser Stelle noch einmal ein großes Dankeschön an den Diensthabenden Kollegen, der von dem Vorwurf des Stalkings nonchalant abgesehen hatte. Also sammelten wir Stimmen, ich schrieb noch einen Kommentar, wir kramten die Geschichte zu Helmers Tor und zum Zweitligaspiel, das der DFB nicht wiederholen durfte, weil es die Fifa verbot, hervor und packten Content über Content (ein tolles Wort für Inhalt) auf die Internetseite.

Es war dann irgendwann nach ein Uhr nachts, als alle Protagonisten das Stadion verlassen hatten. Alles war geschrieben, und in der Redaktion gab es niemanden mehr, den man noch hätte stalken können. Im Kollegenkreis vor Ort blühten die wildesten Vorhaben, wen man am Samstag zum Phantom-Tor befragen müsste. Uno, Amnesty International und die Nachfahren von Mahatma Ghandi hatten, glaube ich, alle auf der Liste.

Um fünf Uhr lag ich zu Hause im Bett. Um neun Uhr stand ich wieder auf und arbeitete weiter. Aber – ob man es glaubt, oder nicht – nicht den kompletten Samstag. Der wurde dann in Teilen doch noch ein freier Samstag. Und so ein freier Samstag ist ungemein förderlich, was die Teilnahme am sozialen Leben außerhalb der Fußballszene angeht. Phantom-Tor hin oder her.

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