Ich bin ein klarer Verfechter des „Man geht einfach nicht früher„. Schon aus Selbstschutz. Der drohenden Häme wegen. Die Gefahr ist einfach zu groß, dass man am nächsten Morgen im Morgenmagazin zu sehen ist. Beim Verlassen des Stadions. Beim Verpassen des größten Moments der jüngeren Vereinsgeschichte.
Hendrik Buchheister, freier Journalist aus Hamburg musste bleiben. Berufsbedingt war er dabei, als ein Stadion abzuheben drohte. Als „der Beton bebte im Westfalenstadion„. Ein Gänsehaut-Fußballerlebnis des Jahres 2013 aus der Champions League:
Es gibt tausend Dinge, die man am Fußball fantastisch, toll, beeindruckend finden kann. Ein 5:0 des eigenen Vereins gegen den Erzrivalen, eine kunstvolle Choreografie oder ein ganzes Stadion, das „You´ll never walk alone“ singt.
Für mich ist der Fußball immer dann am stärksten, wenn er verrückt spielt. Wenn er Spiele produziert, die einen so irrwitzigen Verlauf nehmen, dass ich mich hinterher frage: Ist das wirklich passiert? Es sind die Spiele, in denen sich innerhalb kurzer Zeit alles ändert. Das Ergebnis, die Art, wie man hinterher über dieses Spiel spricht, die Bedeutung, die es für die Nachwelt haben wird.
Deutschlands 4:4 gegen Schweden in der Qualifikation für die WM in Brasilien ist das beste Beispiel. Nach den ersten 45 Minuten war klar, dass dieses Spiel als Höhepunkt in die deutsche Länderspiel-Geschichte eingehen würde. Nach den zweiten 45 Minuten, in denen das Spiel eine 180-Grad-Wendung genommen hatte, konnte es eigentlich nur eine Konsequenz geben: Abmeldung von allen Wettbewerben der Fifa, Auflösung des DFB, Licht aus in Fußball-Deutschland.
Am 9. April dieses Jahres hatte ich das Glück, selbst bei einem solchen Spiel im Stadion zu sein, bei dem sich innerhalb weniger Augenblicke alles ändert. Borussia Dortmund hatte den FC Málaga im Viertelfinal-Rückspiel der Champions League zu Gast. Die Dortmunder hatten bekanntermaßen eine erstaunliche Vorrunde hingelegt, sie waren Erster geworden in der gefürchteten Hammer- beziehungsweise Todesgruppe mit Ajax Amsterdam, Manchester City und Real Madrid.
Auch das Achtelfinale gegen Donezk hatte den Männern von Trainer Jürgen Klopp keine nennenswerten Schwierigkeiten gemacht, aber gegen Málaga sah es schlecht aus für Dortmund. 0:0 war das Hinspiel in Spanien ausgegangen, und im Rückspiel ging Málaga in der 82. Minute 2:1 in Führung. Die BVB-Fans kannten natürlich die Auswärtstorregel im Europacup. Sie wussten, dass ihr Team in den Schlussminuten noch zwei Treffer benötigte, und ihr Glaube daran hielt sich in Grenzen.
Es war still im Stadion, die Fans schienen sich damit abzufinden, dass der Weg des BVB im Viertelfinale zu Ende sein würde. Es war vollkommen klar, auch für mich: Dortmund war raus! Auf den Rängen herrschten weder Zorn noch Erschütterung, eher Resignation. Ich habe nicht darauf geachtet, ob sich die ersten Zuschauer schon auf den Heimweg machten, weil sie sicher waren, dass hier nichts mehr passieren würde. Es hätte auf jeden Fall gepasst.
Wie jeder weiß, ist dann aber doch noch eine Menge passiert. Erst brachte Reus mit seinem Treffer zum 2:2 die Hoffnung zurück, und dann wurschtelte Santana in den letzten Augenblicken der Nachspielzeit den Ball zum 3:2 über die Linie. Ich hatte schon viele Spiele in Dortmund gesehen, aber an einen Torschrei wie nach diesem 3:2 gegen Málaga kann ich mich nicht erinnern. Der Beton bebte, die Tribünen zitterten. Es fühlte sich an, als würde das Stadion gleich abheben und wegfliegen. Bierspritzer landeten auf meinem Laptop.
Natürlich hätte das Tor niemals zählen dürfen. Im Vorlauf zu dem Treffer standen vier Dortmunder im Abseits, und bevor Santana den Ball über die Linie drücken konnte, hielt er sich ebenfalls in der verbotenen Zone auf. Es war ein absurdes Tor, das ein am Ende absurdes aber ebenso faszinierendes Spiel entschied. Der Fußball hatte mal wieder gezeigt, dass er unberechenbar ist. Dass er macht was er will, gegen jede Logik.
Innerhalb weniger Minuten waren die Dortmunder von trauernden Verlierern zu euphorisierten Gewinnern geworden, und innerhalb weniger Minuten war aus einen Spiel, das alle Augenzeugen wohl schon bald vergessen hätten, ein beinahe historisches Ereignis geworden. Málaga, Nachspielzeit, Santana – diese Begriffe sind seitdem untrennbar miteinander verbunden. Die Partie war mein Fußball-Highlight des Jahres 2013, und ich wäre schon ziemlich glücklich, wenn ich im neuen Jahr ein Spiel erleben würde, das nur halb so dramatisch ist.
Uns hätte man das Tor abgepfiffen, und in dem Fall sogar zu Recht. Komisch, dass es dann doch oft so ist, wie es ist: Der T*** macht immer auf den groessten Haufen – sowohl im positiven wie negativem Sinne. Dann scheidest du aus, bist nie in diesem deutsch-deutschen Endspiel, verlierst viel Geld, und wirst auch noch weitere Monate und Jahre als „für zu leicht für die großen Aufgaben“ befunden (oder eben zu doof für die Liga).
Ich schätze Klopp und die Arbeit beim BVB sehr, mag den Spielstil, die Philosophie, hab mich in dem Moment sehr mit dem BVB gefreut. Wurde mir im gleichem Moment aber auch schmerzlich bewusst, wie sehr im Sport dann manches doch von Zufälligkeiten (und auch Ungerechtigkeiten) abhängt, und wie ungleich das dann oft verteilt ist. Fast wie im richtigen Leben, möchte man fast sagen …
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