Tor 8: Blinde Sau

adventskalenderWochenende auf Wochenende durch die Republik düsen, um dem Sohn den geeigneten Fußballverein zu suchen. Das klingt nach einer verdammt guten Idee, wenn man die Gefahr ausblendet, dass dieser Lieblingsverein im hunderte Kilometer entfernten Rostock, Freiburg oder Unterhaching beheimatet sein könnte. Man muss auch auf stundenlange Zugfahrten stehen und Reisen an kühlen Dezembertagen nach Cottbus und Aalen im Blick haben. Dazu muss auch das beSONdere Regelwerk berücksichtigt werden, dass zum Beispiel ein torloses Unentschieden nicht zählt – die Fahrt in das Stadion also wiederholt werden muss.

Die Wochendrebellen haben das „Projekt Lieblingsclub für Jay-Jay“ ausgerufen und nehmen uns im Blog mit auf ihre Reisen. (Immer wieder ein großes Lesevergnügen.) Dass Jay-Jays Papa ein verrückter Hund ist, muss man wohl nicht erwähnen. Schließlich unterstützt er als „Projektleiter“ die Fahrten zu den schönsten und schlimmsten Fußballplätzen der Republik. Aber auch seine einleitenden Worte zum Bericht über sein Fußballerlebnis des Jahres zeichnen das Bild eines Mannes, der bereit ist seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Wir von „Fokus Fussball“ unterstützen das und hoffen, dass es irgendwan eine montägliche Redaktionskonferenz gibt, bei der Hülsen gereicht werden:

Ich kann mir die Fokus-Fußball-Redaktionskonferenz bildlich sehr gut vorstellen an besagtem Morgen. Vermutlich war es der Effzeh`ler, der forderte, etwas lustiges in den Adventskalender einzubauen.

„Komm, wir lassen auch einen Fortuna-Düsseldorf-Fan über sein schönstes Fußballerlebnis 2013 schreiben“. Eventuell war es auch der Dortmunder, der, seit Mai letzten Jahres etwas nah am Wasser gebaut, sich einen gefühlvollen Touch für den Kalender wünschte.

Oder soll ich hier etwa den schlüpfrigen Part übernehmen?

Dann kommen als wahrhaftige Auftraggeber natürlich auch der Hannoveraner, der Leverkusener oder auch der Hoffenheimer in Frage. Nach der dritten Hülse Oettinger Pils zum Frühstück eigentlich alle.

Egal. Die Jungs zahlen gut, also beschloss ich, mein Bestes zu geben.

Einerseits ist es relativ leicht, einen schönen Fußballmoment zu beschreiben, wenn man regelmäßig in den Genuss kommt, den eigenen Sohn in den Kurven der spannendsten 1.Bundesliga des Universums, der weltspielstärksten 2.Bundesliga und der *Superlativ ihrer Wahl einfügen* 3.Liga aller Zeiten beobachten zu dürfen, wenn man völlig wertfrei und unparteiisch das Spiel in seiner reinsten Form genießen darf.

Andererseits habe ich alle diese Momente schon beschrieben, und wer sie bisher nicht gelesen hat, den möchte ich auch hier jetzt nicht damit belästigen.

Ich bin ja eher so der Fußballromantiker, daher wäre es sehr einfach noch ein paar Zeilen zu den Randgeschehnissen unseres Ausflugs nach Sandhausen, St.Pauli, Berlin oder Hoffenheim zu verlieren, weil sie vielleicht meine ganz persönlichen Highlights mit dem Sohn beschreiben würden.

Zu rührselig.

Ich bin ja eher so der rebellische Fan, der entgegen des Auftrags einfach seine nervigsten Fußballmomente 2013 beschreiben könnte, aber es würde wohl eine Flop-Ten der dreckigen rassistischen Auswüchse der letzten Monate werden, oder es ginge um Uli , Kalle, oder Robert.

Zu rebellisch.

Ich bin ja eher so der Fakten-Fetischist und daher könnte ich auf Datenbasis mein Plädoyer für einen Weltfußballer Ronaldo niederlegen.

Zu früh.

Ich mag Eier. Gekocht, gebraten, pochiert? Egal. Hauptsache dick sind sie.

Ich könnte daher auch in einigen Zeilen niederschreiben, warum ich mir wünsche, dass Zlatan Ibrahimovic den Titel einfährt.

Zu viel Rumgeeier.

Ich bin ein großer Befürworter des Kollektivs, gemeinsam sind wir stark und dieses sozialromantische Blabla. Daher sähe ich mich auch in der Lage einen Artikel zu verfassen, warum die gute Wahiba den Platz am Kaminsims nicht umsonst hätte auswählen sollen. Franck Ribéry.

Weltkollektivspieler des Jahres.

Zu früh. Ist nämlich erst im Januar.

Kommen wir zum eigentlichen Punkt. Ich werde zwar pro Zeile bezahlt, aber nachher wird der Text sowieso von den Fokus-Fußball-Jungs wieder eingekürzt.

Sicherlich der beeindruckendste Moment des Jahres 2013 war mein sohnloser Trip nach Hamburg. Ich habe mich all die Wochen nach dem Besuch dort nicht getraut ein paar Zeilen darüber zu verlieren.

Ich sorgte mich, dass, begleitend durch meine flapsige, manchmal vielleicht auch freche unverschämte Art, die Leistung der Sportler, die ich sah, nicht ausreichend Würdigung erhalten würde. Im Nachhinein ärgere ich mich ein wenig darüber, denn deutlich mehr Aufmerksamkeit würde den gezeigten Leistungen mehr als gerecht werden, und auch wenn ich mich nicht als relevantes verbreitendes Medium sehe, so hätte ich zumindest einen kleinen Anfang unterstützen können.

Wenn ich die Erlebnisse mit meinem Sohn einfach mal außer Konkurrenz im internen Ranking erfasse, so war der Besuch dieser Veranstaltung mit nicht einmal einhundert echten Zuschauern plus einigen Angehörigen und Betreuern das schönste Fußballerlebnis, welches ich 2013 erleben durfte.

Es war zunächst ein wenig ungewöhnlich, einer mir bekannten Sportart beizuwohnen, dessen Regelwerk mir dann in diesem speziellen Fall dann doch nicht zu einhundertprozentig geläufig ist.

Auch eine Fankulisse, die, so klein sie auch war, noch dazu beauftragt wurde, sich eher ruhig zu verhalten, sowie das geradezu chronisch durch die Halle schallende „Voi! Voi! Voi! Voi!“ verwirrten mich; und für die Lösung, dass die Spieler anstatt zur iPad-Kontrolle vor dem Spiel zur Eye-Pad-Kontrolle antreten müssen, benötigte ich auch Zeit und externe Unterstützung.

Es war nicht wirklich ungewöhnlich für mich, Spieler zu sehen, die technisch am Ball stärker sind als ich, die über eine engere Ballführung oder mehr Koordinationsgeschick verfügen. Aber dies ausgerechnet bei den Blindenfußballmeisterschaften zu sehen, war wirklich nachhaltig beglückend und positiv belehrend.

Blinde Sau!

Verdammt oft war mir dies über die Lippen gekommen während meiner aktiven Zeit als Fußballer, und wie gerne würde ich behaupten, dass sich dies ab der B-Jugend deutlich besserte. Ich schäme mich heute oft im Nachgang für mein Verhalten auf dem Platz.

Wer meine ruhige, sachlich-biedere und ausgewogene Konversation von Twitter kennt, der kann sich vielleicht gar nicht vorstellen, was für ein mieser Provokateur ich auf dem Platz war.

Collinas Erben müssten viel Personal einstellen, um die Masse an Vorfällen zu bearbeiten und die Rechtmäßigkeiten meiner Sperren nachzubereiten, aber all diese Geschehnisse sind mir im Rückblick egal. Die Notbremsen, das Zeitspiel, der Dirty Talk, der Materazzi hätte wie einen Schuljungen aussehen lassen und all die Nickligkeiten bereue ich gar nicht, aber die „blinden Säue“ schmerzen im Nachgang. Und das nicht erst seit Hamburg.

Ich bin sensibler geworden, was das angeht, aber dies ist keine Leistung, auf die man stolz sein kann. Es war kein Lernprozess im Stile einer charakterlichen Weiterentwicklung, sondern eine Lehrstunde mit der großen Keule des Herrn in der obersten Etage, wie auch immer der heißen mag.

Ich habe die Kommentare mitbekommen, als ich meinen motorisch unterdurchschnittlich entwickelten Sohn damals zum ersten Fußballtraining gebracht habe. Er fiel bezüglich seiner Leistung und seiner Bewegungsabläufe dramatisch gegenüber den Gleichaltrigen ab. Wenn man von jemandem behaupten kann, er hätte zwei linke Füße und die Kniescheiben hinten, Fersen vorn und Bewegungsabläufe wie Robocop mit Platinenschaden, dann ist es mein Sohn. Die belustigenden Kommentare trafen mich ohne Deckung und ohne Chance auf Gegenwehr. Ich wollte nicht, dass der Sohnemann die hitzige Diskussion mit unbekanntem Ausgang mitbekommt.

Warum ich nun doch schon wieder mit dem Sohn-Gefasel um die Ecke komme?

Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass ich mir durch die Nennung meines schönsten Momentes Absolution für mein damaliges idiotisches Verhalten auf dem Platz verspreche, oder, dass meine Beurteilung der Leistungen bei den Blindenmeisterschaften aus Scham für oder aus Verständnis wegen meinem Sohn ihren Weg in diesen Text gefunden haben.

Ich habe Menschen gesehen, die sich ohne Zuhilfenahme des für mich wichtigsten Sinns im Raum orientieren konnten, die gleichzeitig einen klingelnden Ball und Voi!-rufende Mitspieler verorten konnten und auch nach der x-ten Vor- und Zurückbewegung noch wussten, wo sie sich überhaupt gerade befinden.

Ich habe ballführende Spieler gesehen, die ohne Einsatz von Sehfähigkeit zwei oder drei plötzlich vor ihnen auftauchende Spieler einfach umkurvten, Pässe genau in den Fuß eines Mitspielers schlugen, Laufwege, die wie einstudiert wirkte und Spieler, die einen Ball unter die Latte genagelt haben, den ich ohne Sehfähigkeit nicht einmal getroffen hätte.

Die Jungs, die ich gesehen habe, hätten einen Franck, einen Cristiano und auch einen Zlatan nass gemacht, wenn sie unter den gleichen Voraussetzungen spielen würden.

Wenn die Jungs von Fokus Fußball wieder besoffen genug sind, mich 2014 einzuladen, würde ich gerne über folgendes schreiben:

Die Nachhaltigkeit der ausufernden, megapräsenten Berichterstattung in Verbindung mit dem Kantersieg der deutschen Blinden-Nationalmannschaft gegen eine Weltauswahl, angeführt vom Weltfußballer des Jahres, Zlatan Ibrahimovic.

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