Tor 19: Wachablösung ade

Überwintern in allen drei Wettbewerben. Meisterschaftsfavorit sein. Herbstmeister sowieso. Dazu Titelkandidat für die Champions League. Es dürfte schnell klar sein, dass nur ein deutscher Fußballverein diese Zielsetzungen als Selbstverständnis, ja als Mantra vor sich her trägt. Wenn der Club dann in seiner Ehre durch titellose Jahre verletzt wird, erwächst daraus die Verpflichtung, sich für das neue Spieljahr besser zu wappnen als das jemals zuvor ein Verein getan hat. Wo andere auf den Nachwuchs setzen (können), greift der FC Bayern nach den Sternen. Die Kasse ist schließlich so gefüllt, dass man sich sogar Fehltritte erlauben könnte, die das Gros der Fußballvereine an den Rand des Ruins bringen würden. Wenn dann die geplanten Transfers nicht direkt über die Bühne gehen, dann kann die Aufregungsmaschine um den FC Hollywood zu ungeahntem Glanz anlaufen. Befeuert durch Gerüchte, Übersetzungsfehler und soziale Netzwerke.

Stefen Niemeyer ist bloggender Bayern-Fan und erlebte das Wechselfieber mit all seinen Aufgeregtheiten und Absurditäten als Fußballerlebnis des Jahre 2012:

Mai 2012. Wir haben verloren. Titel, Ehre, Würde. Alles weg. Niederschmetternd. Dunkelheit, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung. Das Finale dahoam war das traurige Ende einer verkorksten Saison. Die „Wachablösung“ ist da, so der Tenor in vielen Kommentaren, jetzt geht’s bergab, wird suggeriert. Pah. Hätten sie gerne. Nein, nicht der FC Bayern! Auf geht’s, auf zu neuen Ufern! Zu guten?

Von außen sieht’s einfach aus: Der alte Reflex schlägt wieder zu: Kaufen! Kaufen! Kaufen! Einfach mal tief in die Tasche greifen. Klingt gut, aber das macht es nicht wahr. In Hoeneß‘ Worten:

„Management bedeutet ja Analysieren und Umsetzen. Die Analyse ergab, dass wir in entscheidenden Spielen nicht zusetzen konnten, auf der Reservebank nicht gut genug besetzt waren. Wir hatten auf wichtigen Positionen keine Alternativen. Viele Spieler konnten sich sicher sein: Egal wie ich spiele, ich werde beim nächsten Mal wieder aufgestellt. Das führte zu einer gewissen Nachlässigkeit.“

Wir holen also Shaqiri, Dante, Mandzukic, Pizarro. Und Sammer. Reichen diese Verstärkungen? Die Knackpunkte im Horror-Herbst und -Winter 2011/12 waren die Verletzungen von Schweinsteiger. Der Mittelfeld-Fluch. Kapitänchen kaputt, Zuversicht kaputt. Das spürst und siehst du als Fan sofort. Wie die Mannschaft orientierungslos und tief verunsichert übers Feld stolpert. Ein ein Tor-Vorsprung, ein zwei Tore-Vorsprung keine Sicherheit mehr geben. Wie vermeintlich schwache Gegner plötzlich gegen uns gewinnen. Die Verstärkungen reichen also noch nicht. Erfolgsfan Nico Emig hat’s in seiner komplexen, aber doch übersichtlichen „FC Bayern Matrix“ deutlich gemacht: Wenn Schweinsteiger wegbricht, ist das Loch groß. Wir brauchen nicht nur im Sturm, nicht nur in der Verteidigung, nicht nur im offensiven Mittelfeld, nicht nur im Vereinsvorstand Verstärkung.

Manche Aktivität passte durchaus ins Klischee. Wer hat eine tolle EM gespielt? Bender? Holen! Oh, Vertrag gerade verlängert? Wird richtig teuer. Jetzt will Holzhäuser ihn nicht hergeben? Nächsten Notnagel suchen! Das Auge fällt auf Javi Martínez von Altetic Bilbao. Defensives Mittelfeld, kann auch Verteidigung. Den hatten wir natürlich schon laaaange im Visier. Die ersten drehen wild: 40 Millionen soll der kosten!

Über Wochen wird analysiert, spekuliert, wild fliegen die Argumente: Eigentlich sitzen wir dank einer Ausstiegsklausel am längeren Hebel; wollen die Basken mit den 15-25 Millionen, die wir zu zahlen bereit wären, noch etwas auf dem Transfermarkt anfangen, werden sie sicher bald einknicken; die 40 Millionen der Klausel wollen wir nicht zahlen; Don Jupp kann Spanisch, hat dort mal trainiert, der jetzige Präsident war sein Spieler, da müsse doch was gehen; aber der Baske stellt sich quer; komische Spanier; komische Basken; Javi trainiert nicht mehr richtig mit, wird nicht mehr aufgestellt, nicht mal für die Bank… Drama, Baby!

Tage-, wochenlang geht es hin und her. Mein Spanisch hilft mir, die Sport-Tageszeitungen und Bilbaoer Zeitungen auf Hinweise zu untersuchen, doch auch Marca und AS spekulieren viel. Die enorme Summe elektrisiert. Ein irrer Hype führt zu täglichen Wallungen, auch beim Leser. Hoeneß oder Rummenigge sagen was, beispielsweise, dass der Transfer fast gescheitert sei, dass es „im Moment“ nicht gut stehe. Die deutschen Medien berichten. Mit etwas Verzögerung nehmen die spanischen Zeitungen das auf und zitieren die beiden. Auch in deutschen Sportredaktionen verfolgt man mittlerweile intensiv die spanischen Zeitungen. Also berichtet man in Deutschland, dass es neue Berichte aus Spanien gebe, dass der Transfer fast gescheitert sei. Grundlage? Die Aussagen in deutschen Medien, die man selbst geschrieben hatte! Den Hinweis bekommt der Leser aber nicht. Und so dreht sich das Karussell immer wilder und schneller und wer nicht aufpasst stürzt schwindelig geworden beim Joggen in die Isar.

Die Alternative: Klaren Kopf bewahren. An den Verein und den Vorstand glauben. Vertrauen haben. Ich versuch’s.

Noch zwei Wochen bis zum Ende des Transferfensters.

Am Donnerstag, den 16. August ist es soweit. DIE Nachricht in der BILD: Martínez kommt. Wir beißen in den sauren Apfel, zahlen die 40 Millionen. VIERZIG MILLIONEN. Wahnsinn! So viel wurde noch nie für einen Spieler in der Bundesliga gezahlt. Und es kommen nicht Messi oder Ronaldo. Ein Mann fürs Mittelfeld. Der bei vielen Spielen rollenbedingt gar nicht groß auffallen werde. Am Freitag soll er schon in München sein. Aber ach, wo bleibt die offizielle Bestätigung? Manche pflegen ihre Vorurteile: Bloß ein Schmierenstück vom Bild-Sportchef Draxler? Oder?

Moment Mal, die sind doch immer bestens informiert. Also, das muss ihnen doch einer von oben gesteckt haben. Aber Bilbao zieht alle Register. Was für Fragen plötzlich die Runde machen, wir werden am Bildschirm noch zu Steuer- und Rechtsexperten: Bilbao wolle das Geld vom FC Bayern nicht annehmen, Javi selbst müsse es zahlen. Würden dann zusätzliche Steuern fällig, die die Transferkosten nochmal in die Höhe trieben? Und wie wird das juristisch fehlerfrei durchgezogen, so dass der Transfer nicht anfechtbar wird und es zu wochen- oder monatelangen Verzögerungen kommt?

Die Rückzugsgefechte von Bilbao toben, und zwischendurch bin ich selbst mittendrin, ein bisschen. Ich lande am Montag, den 20. August in München. Ursprünglich hieß es, Javi sollte schon am Freitag oder Samstag zuvor in München sein. Am Wochenende berichtet ein Sender, er würde am Wochenanfang kommen, Medizincheck, Vertragsunterzeichnung etc. Also vielleicht, wenn ich gerade lande? Ich schaue auf dem Weg zum Ausgang kurz rüber zum Gepäckband – Bilbao steht da. Bilbao! Landet Javi vielleicht gerade jetzt? Prima, ich bin früh genug dran, um nicht sofort zur nächsten Bahn in die Stadt hetzen zu müssen. Ich bleibe stehen, mal gucken. Die ersten Spanier kommen, ich mustere sie. Welcher könnte es sein? Sieht einer aus wie ein Berater? Aber wie sehen Berater aus? Soll ich meine Follower-Gemeinde jetzt schon informieren, dass es nichts zu sehen gibt?

Erst mal einen Tweet losjagen, dass ich am Gepäckband stehe. Das Gepäck rollt durch, er ist nicht dabei. Also keiner, bei dem es auffallenden Trubel gab. Ich gehe durch die Schleuse raus. Man kennt das ja, viele Leute warten auf jemanden, den sie abholen wollen. Und tatsächlich steht da einer von Sport1, eine Videokamera in der Hand. Er ist offenbar der einzige, der auf Javi wartet, wir wechseln ein paar Worte, ich stecke die „breaking news“ den Followern. Und weiter, ab zur Arbeit. Abends auf dem Rückweg ist klar, nein, heute kommt er nicht. Keine Kameraleute mehr am Flughafen.

Das wann „Kommt er?“, „Was macht er?“-Theater geht munter weiter, wird zum Running Gag, selbst die Eltern greifen ein, rufen am 25. August „Lasst unseren Sohn zu Bayern“. Als es wieder heißt, Martínez werde in München zum Medizincheck erwartet, wird es voll am Münchner Flughafen. Kameras, Fotos von einem FCB-Dienstwagen, Anrufe bei der Lufthansa-Hotline, am Ende bleibt ein einfaches Fazit: „Die #FCB-Fans konnten heute mal nachfühlen, was bei einer Apple-Keynote unter Macianern abgeht…“

Dann sind da noch die Tweets von Javis Freundin Maria. Wir nutzen sie zu weiteren Interpretationen, ob es schon einen Vertragsabschluss gab, selbst wenn sie einfach nur schreibt: „Heute bin ich stärker denn je aufgestanden“. Schließlich stellt sie klar: „Meine Tweets haben nichts mit Fußball zu tun.“ Ich übersetze für die deutschen Leser, inzwischen folgen wir uns.

Am 29. August kündigt wiederum die Bild den Vollzug an. Ein insgesamt würdeloses Schauspiel, das sogar seltsamste Lügengeschichten trug: Hatte Javi sich nachts auf Vereinsgelände geschlichen, um was zu klauen? Wer glaubt denn so was? (Ich könnte jetzt noch ein paar Seiten weiter schreiben, was noch alles passierte, aber ich glaube, es reicht.)

Ende gut, alles gut: Da isser!, der „Messias“. Wir spielen eine wahnsinnig gute Hinrunde, ich habe das Gefühl, dass wir vor, mitten in einer großen Saison stehen. Die Aufregung hat sich gelohnt. Wachablösung ade.

Fazit

So was gibt’s nur einmal, das kommt nie wieder! Oder? Denken wir kurz an 2013. Und da fällt sofort ein Satz der Halbjahresbilanz von Andreas Burkert in der SZ ins Auge: „Die Münchner sind dem Vernehmen nach fest entschlossen, Pep Guardiola für sich zu gewinnen“. Pep! Der Trainer-Riesenriese! Sollte es da einen wochenlangen Kampf mehrerer europäischer Vereine geben, dann war die Aufregung um Martínez noch harmlos.

4 Kommentare » Schreibe einen Kommentar

  1. Sehr schön geschrieben und ich habe – mit Dank einer etwas ruhigeren Zeit an der Uni – den Hype wie du mitgemacht.

    Eine Verkaufsstatistik einiger Flight Tracking Apps zeigt garantiert Spitzenwerte an jenen Tagen vor der Martínez Landung auf.

    Nun ist er schon ein ganz paar Wochen da & ich bin rundum zufrieden mit dem Transfer. Einen Javi in Topform sehen wir wohl erst nach dem Wintertrainingslager, aber darauf freue ich mich.

  2. Besten Dank, Jan!
    Stimmt, das wäre noch ein schönes Detail gewesen, wie plötzlich genaue Angaben über Twitter schwirrten, wo sich Maschinen aus Bilbao (oder Madrid, oder, er flog einen Umweg!, Rom!) gerade befänden ;)

  3. Pingback: [EF25] Jahresrückblick | Erfolgsfans.com

  4. Pingback: Aufreger des Jahres: Der Martínez-Transfer – Ueber die Linien

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