Tor 5: Schlaflos in München

Tolle Tore, wunderbare Spielzüge und Erfolge des  Lieblingsvereins waren es, die ich erwartete als ich verschiedene Fußballafficionarios um ihr Fußballerlebnis des Jahres 2012 für den „Fokus Fussball Adventskalender“ bat. Doch im Gegensatz zum kitschigen Hollywood Film hält der Fußball oft nur für eine Fangemeinde ein Happy End bereit. Ein leidenswerter Sport.

Ben Neudek twittert und bloggt als Stadtneurotiker und verbreitet so seine lesenswerten „Ansichten aus dem Millionendorf“. Egal ob Fan des FC Bayern München oder nicht – sein Text hinter Tor 5 löst Mitgefühl aus.

4.24 Uhr. „Nein! Das ist kein Omen! Das ist nur Deine Schlafmützigkeit!“ Was man sich vor so einem Spiel eben einredet, wenn die U-Bahn zwei Minuten zu früh abfährt. Ich begebe mich im Dunkeln wieder an die Oberfläche und fahre mit der nächsten Trambahn in die Stadt. Um kurz vor Fünf deutet wenig auf einen ereignisreichen Tag hin. Einzig ein paar Fans des FC Chelsea sehe ich am Odeonsplatz. Hoffentlich sind sie bis Abends wieder nüchtern. In der zweiten U-Bahn, die ich erwische, riecht es nach Schweiß und Alkohol. Man fährt eher heim als ins Stadion.

„Nächster Halt: FRÖTTmnng!“

Vor der Arena sind die Stände aufgebaut, das Luftkissenboot ist fest in Hand der UEFA. Ein paar Menschen vom zuständigen Sicherheitsdienst führen ihre Hunde aus. Fährtenkunde, bevor die Massen einfallen. Ich fühle mich wie die vier Touristen, die sich sie ebenfalls zum Photographieren eingefunden haben. Auf dem Rückweg in die Stadt riecht es frisch.

Am Marienplatz tauchen die ersten Menschen mit Trikots auf. Rot führt gegen Blau. Am Rosenheimer Platz sticht mir die AZ in die Augen. „Heute sind wir alle rot!“ Nur das Lila der an den Rändern platzierten Anzeigen stört. In der Bäckerei meines Vertrauens ist um kurz nach 7 noch nichts los. Dafür sind die Auslagen voll.

Nachmittags. Ich mache mich in Richtung Olympiastadion auf: schon auf den ersten 100 Metern werde ich mit einem „Sechzig!“ angemacht. In der U-Bahn stinkt’s. Ich ärgere mich, daheim nicht noch ein oder zwei Bier getrunken zu haben. Darüber hinaus: Orientierungslosigkeit. „Wo müssen wir hin?“ „Theresienwiese!“ „Olympiastadion!“ Egal, dann wird eben gesungen. Sofern man die Versuche so nennen kann. Gröhlen trifft’s eher. Die wenigen Menschen in den blauen Trikots halten sich dezent zurück.

Hauptbahnhof. Trikotträgerinnen und Trikotträger, wohin ich blicke. Einige tragen Lederhosen dazu. It feel’s like Wiesn. Die Hemmungen haben Zeit bis Montag. Mindestens.

Chelsea- und Bayernfans haben ungefähr den gleichen Promillegehalt. Ich komme an allen vorbei. Mir ist ohne Alkohol schwindelig. Die wenigen Passanten, die mit dem Geschehen nichts zu tun haben, wirken Fremde in ihrer Heimat. Ein Baustellenhinweis der MVG erinnert daran, daß es in München noch einen Fußballverein gibt. In der Trambahn wird viel Bier getrunken und noch mehr kistenweise transportiert. Die Dachauer Straße ist so leer, daß ich sie an der Kreuzung Landshuter Allee überqueren kann.

Willy-Gebhardt-Ufer. Wer kein Fußballfan ist, fährt Rad. Und flieht. Es liegt noch Niemand im Biedersteiner Kanal. Vor dem Olympiastadion versuche ich meinen Kartenvermittler zu erreichen. Aber das Netz ist zusammengebrochen. Wenigstens treffe ich den Michel. Verabredet haben wir uns nicht. Aber wir haben beide ein Date mit unseren Vermittlern. Wir stehen rum, unterhalten uns und versuchen unsere Eintritte zu erreichen. Keine Chance.

Ein Bier? Ein Bier! Ich stelle mich an. Viele Buden sind es nicht. Ich sehe dennoch daß Heineken alkoholfrei verkauft wird. Scheiß UEFA! Aber das Bier ist aus. „Ey, nur Zwei! Die anderen sind weg! Für die Schwuchteln müssen wir kein Bier holen!“ Wenn es denn eins gäbe. Es kommt Bewegung in die Schlange. „Du brauchst mich hier ned so anmachen! Ich bin die Chefin hier! Aber ich kann auch nix dafür, wenn wir nicht genügend Becher bekommen!“ Dafür gibt es jetzt wieder Bier. Das aber aus der hohlen Hand zu trinken, ist auch keine Alternative. Netz gibt’s auch keins. Wir stehen immer noch ohne Ticket da. Eine SMS erreicht mich. Irgendjemand hat mein Ticket, das er mir überreichen will. Aber ich kann ihm nicht antworten.

Dunkle Wolken ziehen auf. Es wird windig, unsere Stimmung passt sich dem ändernden Wetter an. Wir werden angesprochen. „Braucht Ihr Ticket?“ Zögern. Beratschlagen. Zuschlagen. Hilft ja nix. Wir wollen dabei sein. So stelle ich mir Drogenkauf an der Giselastraße vor.

Wir sind drin. Wir stehen wieder an. Durst haben wir ja auch noch! Es dauert auch nur eine weitere halbe Stunde. Inzwischen ist es 20 Uhr, als wir uns gen Haupttribüne begeben. Zweite Reihe, von unten. Aber dafür haben wir Bier und sind drin. Aber Michel stellt zurecht fest, daß das nicht reicht. Er zieht los, um noch mal Bier zu holen. Ich bewundere ihn. Er scheint das bessere Nervenkostüm zu haben. Zwischendurch habe ich Netz. Neben mir nimmt ein junges Paar Platz. Sie erwartet wohl kühle Temperaturen und zieht sich noch mal um. Es gibt schlimmere Anblicke.
Die alt-ehrwürdige Schüssel ist bereits gut gefüllt, aber Stimmung kommt erst auf, als die Choreographie vom Club Nr. 12, für die sich eine Eintrittskarte schon gelohnt hätte, zu sehen ist.

Anpfiff. Ich sehe wenig, weil der Zaun im Weg steht. Stehen darf ich aber auch nicht, weil sich Zuschauer hinter mir beschweren. Ich will nicht streiten, ich kann nicht streiten. Ich bin auch an so einem Abend aggressiv gehemmt. Vor mir hinter dem Zaun stehen Fans, die meine Sicht beeinträchtigen. Ich könnte sie blöd anmachen, weil ich ja nix sehe. Schweinsteiger bekommt Gelb. Wofür, sehe ich nicht. Ich darf ja nicht stehen. Michel kommt mit drei Bier zurück. Ich bedanke mich nicht adäquat, weil ich es nicht kann und mich eher in der Pflicht sehe, das Nichtgesehene für ihn kurz zusammenzufassen.

Zwischendurch werden Vermisstenanzeigen durchgegeben. Wir sehen immer wieder Fans, die unentwegt auf und ab gehen. Sie gehen in die Knie. Sie krallen sich verzweifelt am Zaun fest.

Jubel! 1:0! Nein, doch nicht! (Ich bekomme es in der Aufregung erst später mit.) Es ist inzwischen dunkel. Die dunklen Wolken sind nicht mehr zu sehen. Viele Aufschreie sind zu hören.

1:0! Es werden Bengalos angezündet. Marcel Reif und Stefan Effenberg verstummen in der Masse der Jubelnden. Friede, Freude, Pott. Die Vorfreude steigt im Rund ins unermessliche.

1:1. Stille. Keine Pfiffe, keine Bengalos. Einfach nur Stille. Es fühlt sich an wie Lethargie.

Verlängerung. Die Stadionanimateure schalten wieder zu spät zum Spiel. Die Nervösen sind noch nervöser. Zwei Fans rennen in unserem Karree auf und ab. Sie schimpfen, sie hadern, sie verzweifeln offen. ADHS muss bei so einem Spiel eine ganz üble Krankheit sein. Aber es sind auch die Kaltblütigen unterwegs. Einige müssen wohl ihr erst heute im Fanshop am Hauptbahnhof erworbenes Trikot amortisieren und sammeln Pfandbecher auf. Der Eifer, mit dem sie sammeln, deutet nicht darauf hin, daß es eine Übersprunghandlung ist. Zwischendurch vergibt der FC Bayern einen Elfmeter. Ich habe also keine Zeit, mich über diese Pfennigfuchser aufzuregen. Das Spiel erfordert meine ganze Kraft. Der Michel und ich können uns eh nur noch anschauen. Reden geht nicht mehr.

Elfmeterschießen. Inzwischen kann ich nur noch schreien. Die Pfennigfuchser sammeln ungestört weiter. Auf und nieder, immer wieder.
„Und aus“, sagt Marcel Reif. Stille. Leere. Die Ersten gehen. Wer gehen kann, geht, die Anderen blieben fassungslos sitzen. Ich biete Michel mein Noagerl an. Als Sammer beginnt, über Chelsea zu schimpfen, gehen wir. Unsere fünf Becher zurückgeben. Die nächste Schlange. Ich huste. Einer der der vor mir Stehenden, der sehr viele Becher eingesammelt hat, beginnt mich zu beschimpfen. Auf Schwäbisch. Er wirft mir fehlenden Anstand vor. Ich murmele nur, daß er sich von dem Becherpfand sicher einen guten Hustensaft leisten kann. „Ja, so schauschd Du aus!“ Er trägt ein Robben-Trikot und Lederhosen. Ich ziehe ostentativ meinen nicht vorhandenen Rotz hoch. Es ist meine Form, die in mir heute erstmals aufkommende Aggression zu kompensieren. Er schiebt sich mit 58 Euro aus der Menge. Davon wir er sicher seinen Enkeln erzählen. Wo er die Becher gesammelt hat, werden sie nicht erfahren. Gegen den Strom bewegen wir uns zur Dachauer Straße. Die Stille im Olympiapark ist gespenstisch. Es ist ein langer Trauerzug, der ohne Leichenschmaus nachhause will. Die Trambahn am Goethe-Institut ist brechend voll. Wie laufen, wie viele andere Zurückgebliebene auch, gen Stadtmitte. Ins Kosmos werden werden wir nicht reingelassen. „Keine Trikots heute!“ Kann man machen. Am Hauptbahnhof stehen wir wieder Schlange. Vorm Rubenbauer, der Tegernseer verkauft, warten auch Andere auf ihre Abfüllung. Eine Verkäuferin und ein Verkäufer sollen rund 100 Durstige schnellstmöglich bedienen. Geld verdienen auf die Schnelle für den Pächter. Vor uns zweifelt ein Frustrierter, der auf den patzig vorgetragenen Wunsch „Bier“ Augustiner vorgesetzt bekommt, daß Bier Bier sei. Wer kann auch schon darauf kommen, daß er Becks aus der Dose meint? Ich bekomme den Frust der Verkäuferin zu spüren, indem sie sie mir die sieben Cent Rückgeld auf einen Quadratmeter verteilt. Ich wünsche ihr einen schönen Sonntag. Ich möchte den Job ja nicht machen.

1 Uhr. Wir trinken unser erstes Bier. Die Erschöpfung meldet sich in den Beinen. Wir sehen Kinder. Wir verabschieden uns. In der Nachttrambahn erklärt ein Australier, warum er Chelsea-Fan sein muss.

2.20 Uhr. Ich bin daheim und trinke mein erste Bier im Sitzen. Ich versuche die Eindrücke zu sammeln.

Es war ein unvergesslicher Tag, der leider einen sehr großen Schönheitsfehler hatte.

5 Kommentare » Schreibe einen Kommentar

  1. Wie lange hat es gedauert, diesen Text zu schreiben?
    Mein 19.05. ist schon länger her, ich könnte heute immer noch nicht drüber schreiben.

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