Tor 18: Als „Anstandsdame“ beim Effzeh

Es ist immer sehr interessant mit dem Beherrscher von „Lizas Welt„, denn er lässt zum Glück immer gern den Regelfetischisten raushängen. Dann erläutert er  mit viel Fingerspitzengefühl beim Kurznachrichtendienst und im hauseigenen Podcast „Collinas Erben“ was die Regeln des Fußballs besagen. Da tun sich dann beim Lesen und Hören gar ungeahnte Ermessensspielräume auf.

Sein Fußballerlebnis des Jahres hat dann aber nichts mit dem Dienst an der Pfeife zu tun – auch wenn der beschriebene Dienst aus der Schiedsrichterarbeit des vorzüglichen Alex Feuerherdt erwuchs.

Schon mal den französischen Begriff „Chaperon“ gehört? Falls nicht: Übersetzt heißt das so viel wie „Anstandsdame“. Mit diesem Begriff bezeichnete man, wie die Wikipedia weiß, „bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ältere weibliche Person, die einer jüngeren unverheirateten weiblichen Person zugesellt wird, damit sie im Rahmen von Anstand und Etikette die moralische Integrität des Verhaltens ihres Schützlings sicherstellt, insbesondere bei Annäherungsversuchen, Begegnungen und Treffen mit männlichen Personen“. Chaperons nennt man aber auch die Helferinnen und Helfer bei Dopingkontrollen im Sport, und natürlich ist das kein Zufall. Schließlich besteht auch deren Job letztlich darin, bei Annäherungsversuchen, Begegnungen und Treffen – mit allerlei zwielichtigen Gestalten nämlich – die moralische Integrität des Verhaltens ihres Schützlings (sprich: des jeweiligen Sportlers) sicherzustellen.

In dopingintensiven Sportarten gibt es Chaperons schon seit Jahren, im deutschen Fußball seit der Saison 2009/10. Sie wurden eingeführt, nachdem zwei Hoffenheimer Spieler nicht, wie es die damaligen Regularien eigentlich vorsahen, sofort nach dem Spiel zur Dopingkontrolle erschienen waren, sondern erst mit gehöriger Verspätung. Da beschloss der DFB, fortan zu jeder Partie in den oberen drei Ligen zwei Hilfskräfte zu entsenden, die im Falle einer Dopingkontrolle – ob eine stattfindet, gibt der DFB jeweils kurz vor Spielbeginn bekannt – die ausgelosten Spieler (zwei je Mannschaft) nach dem Schlusspfiff am Spielfeldrand in Empfang nehmen und ohne Umweg in den Dopingkontrollraum führen. Die Frage, welche Sportskameraden sich denn für diesen ehrenamtlichen, Neutralität voraussetzenden Job in besonderer Weise eignen könnten, war auch schnell beantwortet: Schiedsrichter natürlich. Und so habe ich nicht lange gezögert, als vor dreieinhalb Jahren sechs Chaperons je Profiklub gesucht wurden, aus denen ein Pool gebildet werden sollte. Diesem Pool gehöre ich seitdem für Spiele des 1. FC Köln an (und werde, wenn einmal Not am Chaperon ist, gelegentlich auch in Leverkusen eingesetzt).

Dabei ist es kein Geheimnis, dass der besondere Reiz der Tätigkeit als Chaperon darin besteht, vorübergehend zum Mitwirkenden des Bundesligazirkus zu werden: Man bekommt im Falle einer Dopingkontrolle vom Dopingarzt einen so genannten Innenraumausweis ausgehändigt, der zum Betreten des Allerheiligsten berechtigt – VIP-Raum, Mixed Zone, Mannschaftskabinen, Spielfeldrand – und so eine unmittelbare Nähe zum Geschehen herstellt. Gleichzeitig verlangt die Tätigkeit professionelle Distanz und ein zurückhaltendes, besonnenes Verhalten auch in hektischen oder unangenehmen Situationen. „Halten sich Spieler oder Vereinsverantwortliche nicht an die Vorgaben der Anti-Doping-Richtlinien, so hat der Chaperon diese höflich und verbal darauf hinzuweisen sowie den Doping-Kontrollarzt umgehend hierüber zu informieren“, heißt es dazu trocken in den Richtlinien. Und weiter, so amüsant formuliert wie im Grunde selbstverständlich: „Der Chaperon setzt unter keinen Umständen körperlichen Zwang ein“ und „berührt niemals den Spieler, zieht diesen auch nicht am Ärmel“.

Seit der Spielzeit 2009/10 hatte ich eine Reihe von Einsätzen als „Anstandsdame“, doch keiner ist mir so in Erinnerung geblieben wie jener am 10. März dieses Jahres beim Spiel des 1. FC Köln gegen Hertha BSC. Beide Klubs standen in der Liga mit dem Rücken zur Wand und lieferten sich ein hitziges Spiel, in dem der „Effzeh“ nach 36 Minuten durch Christian Clemens in Führung ging – und in der 66. Minute Mato Jajalo nach einem groben Foul durch Platzverweis verlor. Der bei diesem Spiel zuständige Dopingarzt hatte die Chaperons gebeten, etwa zur 70. Minute am Spielfeldrand zu erscheinen; zu diesem Zeitpunkt werden im Beisein der Dopingbeauftragten beider Vereine immer die versiegelten Umschläge geöffnet, in denen sich die Nummern der zur Dopingkontrolle ausgelosten Spieler befinden. Anschließend begeben sich die Chaperons bis zum Schlusspfiff in den Bereich hinter dem Vierten Offiziellen.

Diesen Platz hatten mein Kollege und ich gerade eingenommen, als die ohnehin schon emotionale Partie ihren Siedepunkt erreichte: Lewan Kobiaschwili und Lukas Podolski gerieten körperlich aneinander; Schiedsrichter Guido Winkmann schickte den Berliner daraufhin mit Gelb-Rot vom Platz und den Kölner wegen einer vermeintlichen Tätlichkeit mit glatt Rot. Auf den beiden Bänken hielt es nun niemanden mehr, vor allem die Kölner Trainer, Betreuer und Ersatzspieler waren sicht- und hörbar erregt. Das nicht minder aufgebrachte Publikum veranstaltete dazu einen buchstäblich ohrenbetäubenden Lärm und bedachte den Referee mit allerlei Flüchen und Verwünschungen, während sich der Vierte Offizielle dem in diesem Moment schlichtweg aussichtlosen Unterfangen widmete, die Gemüter wieder zu beruhigen. Eine adrenalinschwangere, beeindruckende, einschüchternde Atmosphäre, die keinen kalt lässt und die man am Spielfeldrand noch deutlich intensiver erlebt als auf der Tribüne – selbst in den vorderen Reihen –, schon weil man die Reaktionen von Spielern und Bänken unmittelbar und ohne jeden Filter mitbekommt.

Der Schlusspfiff in diesem turbulenten, am Ende sogar dramatischen Spiel führte die nächste Eruption herbei. Auf den Rängen feierte das Publikum, als ob der „Effzeh“ den Klassenerhalt geschafft hätte, Lukas Podolski, der die letzten Minuten hinter uns vor der Glastür zur Mixed Zone verbracht hatte, stürmte auf den Rasen, Kölns Trainer Solbakken vollführte vor der Südkurve einen wahren Veitstanz. In diesem Tollhaus, in diesem Tohuwabohu sollten mein für die Hertha zuständiger Kollege und ich nun die für die Dopingkontrolle ausgelosten Spieler ausfindig machen und zum Kontrollraum führen. Einen der beiden Kölner, für die ich zuständig war, hatte bereits der Dopingarzt persönlich gleich nach dem Abpfiff in Empfang genommen; der andere dagegen befand sich noch auf dem Feld bei den Fans und sollte außerdem zum „Sky“-Interview in der Mixed Zone. Beides stand übrigens im Einklang mit den Richtlinien für die Chaperons, in denen es heißt, dass gewartet werden solle, „bis die Spieler etwaige Ehrenrunden, spontane Siegesfeiern, Interviews u.ä. auf oder am Platz beendet haben“. Da ist die Anti-Doping-Bürokratie also nicht strenger als unbedingt nötig.

Als ich mit dem aufgewühlten Kölner Kicker schließlich den Dopingkontrollraum betrat, war der Abpfiff schon einige Minuten her – was sowohl dem Spieler als auch mir einen sanften Rüffel durch den Dopingarzt eintrug. Aber ich konnte guten Gewissens versichern, dass er kein irgendwie verdächtig aussehendes Reagenzglas in Empfang genommen hatte. Mit dem Abliefern des Spielers im Kontrollraum ist der Einsatz als Chaperon für gewöhnlich beendet; man wird dann, wie es im Amtsdeutsch der Regularien heißt, vom Dopingarzt „entpflichtet“. Aber als lästige Pflicht habe ich die Tätigkeit als „Anstandsdame“ ohnehin nie empfunden. Für mich war und ist sie vielmehr eine Kür – als Schiedsrichter wie als Fußballfan.

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