Tor 15: Der letzte Tanz des haarlosen Blenders

Es sind schwere Zeiten für viele Fußballfans in Deutschland, denn sie wollen aus Protest gegen die Kommunikationslegastheniker der Deutschen Fußball Liga ihre Emotionen im Zaum halten. Bis zum Winter. Besonders kreativ ist diese Form des Protests nicht. Sie ist  Ausdruck einer gewissen Ratlosigkeit. Deshalb bleibt vielen nur die Möglichkeit in Erinnerungen zu schwelgen an Momente des Glücks – auch wenn es nur von kurzer Dauer war.

Wer sich nicht erinnern kann, der dar in den Erinnerungen von Thomas Reinscheid schwelgen. Der Twitterati aus Köln-Süd ist bloggendes Mitglied der Sektion Twitter und des Dachverbandes der aktiven Fanclubs Köln und hat sich als seinen Fußballmoment des Jahres 2012 einen kurzen Lichtblick in einer der erfolglosesten Phasen seines Lieblingsvereins herausgepickt.

„Ein Spiel hat 90 Minuten“ – das wusste schon Bundestrainer Sepp Herberger in Zeiten, als es noch kein Phrasenschwein in einer niveauarmen Fußball-Talksendung eines Senders gab, der den Zusatz „Sport“ im Namen trägt, aber allzu häufig Sendeminuten mit Call-In-Spielshows oder ähnlichem Spökes auffüllt. Zwar erweitert sich die Zeitspanne einer Fußballpartie häufig dank Nachspielzeit noch um gefühlte Ewigkeiten, doch im Grundsatz entspricht Herbergers Phrase der Realität.

90 Minuten, das sind 5400 Sekunden. Unzählige Momente, die völlig bedeutungslos an uns abperlen. Aber auch Momente voller fiebriger Anspannung, in der sich die Zeit wie in Dalis „Beständigkeit der Erinnerung“ wie ein zäher, schmelzender Lavastrom fortzubewegen scheint. Momente, die lange in Erinnerung bleiben, und Momente, die ich am liebsten direkt wieder vergessen würde. Momente, die ich am Liebsten für immer auf meine Festplatte brennen möchte.

Aber es ist nicht nur das Spielgeschehen, das sich tief in unser Bewusstsein gräbt und dort Spuren hinterlässt – auch Szenen vor oder nach dem Spiel, Situationen im Stadion oder außerhalb und die kleinen oder großen Gesten können zu unvergesslichen Momenten, zu Bildern für die Ewigkeit avancieren. Wie die zehn Sekunden am 10. März 2012, als das schier endlose Zittern, Hoffen und Bangen mit dem Schlusspfiff des Schiedsrichters ein Ende fand. Als das große Poltern im Müngersdorfer Stadion begann, weil vor lauter Erleichterung zig-tausend Steine von den Herzen der FC-Anhänger purzelten. Als sich die Entspannung in einem völlig entfesselten Veitstanz des norwegischen Trainer Stale Solbakken vor der Südkurve Bahn brach.

Zuvor lagen wieder einmal harte Tage hinter dem 1.FC Köln. Sportlich wie auch außersportlich. Die Mannschaft konnte nach dem Auswärtscoup in Kaiserslautern drei bittere Niederlagen einstecken und schaffte in Sinsheim erst kurz vor Ende der Partie eine kleine Trendwende. Es schien, als hätte die Beendigung des Betzenberg-Fluchs (erster Sieg seit 1989!) unsere rot-weißen Götter mit dem Geißbock auf der Brust selbst verflucht. Die Talfahrt führte den FC hinunter bis Platz 14 – lediglich einen Platz und zwei Punkte vor dem Gegner aus Berlin.

Wäre der sportliche Niedergang nicht schon genug Ärgernis gewesen, setzte man rund um das Geißbockheim, ganz im Einklang mit dem kölschen Lebensgefühl, auf maximale Selbstzerstörung: Zunächst sorgte Miso Brecko nach der vereinseigenen Karnevalssitzung für Negativschlagzeilen, als seine Alkoholfahrt auf den Bahngleisen abrupt ein Ende fand. Der Tiefpunkt im Straßenverkehr war allerdings noch nicht erreicht: Kölner Fans jagten bei der Rückreise vom Auswärtsspiel in Hoffenheim auf der Autobahn einen Bus der Mönchengladbacher Erzrivalen und attackierten diesen unter anderem mit rot-weiß lackierten Backsteinen. Beteiligt bei dieser Aktion, so titelten die Medienvertreter prompt, sollten auch Mitglieder der größten FC-Ultrágruppe „Wilde Horde 96“ gewesen sein. Der Verein reagierte prompt und mit aller Schärfe, entzog der WH sämtliche Privilegien und regte sogar in einer Stellungnahme ein mögliches Vereinsverbotsverfahren an.

Keine guten Vorzeichen für das anstehende, immens wichtige Heimspiel gegen Hertha BSC, die in der vergangenen Woche mit einem 1:0-Erfolg über Werder Bremen aufhorchen ließen. Es war das Heimdebüt des Trainerdinos Otto Rehhagel, der Markus Babbel Michael Skibbe auf der Bank der Berliner abgelöst hatte und die „Alte Dame“ zum Klassenerhalt führen sollte. Der Tabellenvierzehnte traf also im Müngersdorfer Stadion auf den 15. der Bundesliga – ein Duell zweier Abstiegskandidaten, ein so genanntes „Sechspunktespiel“, ein Kampf um das Überleben in der 1. Bundesliga.

Drama, Baby!

Dem FC war die Bedeutung der Partie zu Beginn nicht anzumerken, der Tribüne leider auch nicht. Während sich unsere rot-weißen Götter mächtig ins Zeug legten und eine Chance nach der anderen herausspielten (diese aber – größtenteils in Person von Torjäger a.D. Milivoje Novakovic – vergaben), blieb die dringend benötigte Unterstützung von den Rängen aus. Die sonst dauersupportenden Ultras legten, wenn an diesem Tag überhaupt anwesend, die Arbeit nieder, auch der Rest des Stadions schien an lautstarken Gesängen und Anfeuerungen kaum interessiert zu sein. Nur als Christian Clemens die Geißböcke per fulminantem Rechtsschuss in Führung brachte, schwoll der Dezibelpegel im Müngersdorfer Stadion auf ein angemessenes Niveau an.

Ich saß derweil erstmals bei einem FC-Pflichtspiel auf der Osttribüne – die Karten für den Block, der an die Südkurve grenzt, hatte sich mein Mannschaftskollege von seinen Schwiegereltern in spe geliehen. Direkt an der Glasscheibe zu den Logen platziert, konnte ich sowohl das Geschehen auf den Rängen als auch auf dem Spielfeld perfekt verfolgen. Im üblichen Halbzeit-Schwaad wurde sich nicht nur dem halben Block vorgestellt, sondern auch heftig diskutiert: Die Führung schien nicht nur mir angesichts der herausgespielten Großchancen etwas dünn – dazu musste Rensing gegen eigentlich harmlose Berliner bereits zweimal sein volles Können auf der Linie abrufen, um ein – natürlich völlig unverdientes – Gegentor zu verhindern. „Ob das gut geht…?“ – anscheinend war ich mit meinen Sorgen nicht alleine.

Was daraufhin allerdings in der zweiten Halbzeit geschah, hätte sich auch der kühnste Fantast im Block nicht ausmalen können. „Nichts für schwache Nerven“, zieht der geneigte Fußball-Kommentator aus der Floskelschublade, „ein Spiel, dessen Verlauf selbst Hitchcocks Thriller toppt“. Zunächst behielt das Spiel allerdings seinen bereits bekannten Rhythmus: Der FC erspielte sich gute Einschussmöglichkeiten, doch beim Novakovics Privatduell gegen Hertha-Schlussmann Thomas Kraft behielt der Berliner Keeper erneut die Oberhand. Dem Schiedsrichter Guido Winkmann schien dieser Spielverlauf offenbar zu eintönig: Nach einem harten Einsteigen des soeben eingewechselten Jajalos gegen Herthas Kapitän Kobiashvili stellte der Unparteiische vom Niederrhein den Kroaten – zur Überraschung der Zuschauer, denn zuvor war Winkmann eher großzügig aufgetreten – vom Feld.

Dem ungläubigen Entsetzen auf dem Spielfeld und den Rängen folgten erhitzte Gemüter. Der FC musste nun in Unterzahl weniger um den so wichtigen Heimsieg kämpfen. In Unterzahl? Was für ein Unfug! Denn plötzlich stand das Kölner Publikum, zuvor entgegen ihrem Naturell eher reserviert auftretend, wie ein Mann hinter ihrem Team: Der allseits bekannte „Schieber“-Schlachtruf schallte durch das Stadion, die Berliner wurden bei jedem Ballkontakt (und davon hatten sie nun eine Menge) ausgepfiffen. In Müngersdorf wirkte es von der Lautstärke her, als ob gleich ein Düsenjet starten würde. Die oft beschworene „Rote Wand“ war binnen Sekunden zum 11. Mann im Team geworden – Einigkeit untereinander durch ein gemeinsames Feindbild.

Und es war noch lange nicht Schluss im Tollhaus „Müngersdorf“: Der eben noch gefoulte Kobiashvili kam im Zweikampf an der Mittellinie einen Schritt zu spät und zog Martin Lanig im Zweikampf die Beine weg. Es folgte eine „Rudelbildung“ vom Allerfeinsten: Kobiashvili verwickelte Lukas Podolski in einen Infight, dem dieser sich allerdings entzog. Der Georgier schien nicht genug zu haben und legte sich im Verlauf dieser Szene fast mit der gesamten Kölner Mannschaft an. Die Reaktion des mittlerweile völlig überfordert wirkenden Schiedsrichters: Kobiashvili, für das Foul bereits gelb verwarnt, erhielt die Ampelkarte, Podolski, der sich dem Würgegriff des Berliners lediglich ruckartig entzogen hatte, sah dagegen glatt Rot und demonstrierte beim Verlassen des Feldes die ihm unterstellte Tat am ebenso entsetzten Solbakken.

Das Stadion kochte nun endgültig: Neun Kölner stemmten sich gegen 10 Berliner, die in der verbleibenden Viertelstunde den Ausgleich erzwingen wollten. Mich hielt es – wie den Rest des Stadions – nicht mehr auf den Sitzen. Pfeifend, schreiend, auf und ab springend, Fingernägel kauend, bangend, betend. Mein Puls pumpte jenseits von Gut und Böse, der Blutdruck bewegte sich sicherlich in keinen gesunden Sphären mehr, das durch die Aufregung ausgeschüttete Adrenalin ließ meinen Körper zittern und beben. Jeder Ballgewinn wurde frenetisch gefeiert, jeder Angriff der Berliner begleitete ein infernalisches Pfeifkonzert. Müngersdorf stand kurz vor der Explosion.

„Ich will nicht wissen, was hier passiert, wenn die den Ausgleich schießen“, brüllt mir mein Kollege ins Ohr – wenn er überhaupt etwas gesagt hat und ich das nicht halluziniere. Ausgleich? Aufhören. Schlechtes Karma, so was darf man nichtmals denken. Kämpfen und siegen, FC – alles in die Waagschale werfen, was der Körper hergibt. Auf und neben dem Rasen. Hertha drückt, der FC eingeschnürt mit dem Mut der Verzweiflung. Hertha schießt, Rensing pariert glänzend. Hertha flankt, der FC pennt, Hertha schießt. Daneben, daneben, daneben – fast geht die Brille meines Kollegen beim Jubel über den Fehlschuss fliegen. Ich sehe eh nur noch verschwommen, alles in mir brennt, pulsiert, flucht, schreit: „Kratzen, beißen, Haare ziehen – egal wie, holt Euch die Murmel!“ – oder: „Flöt aff, do Woosch!“ – irgendwann muss doch Ende sein, wir spielen doch mindestens schon über 100 Minuten.

Minuten, die sonst im Flug vergehen, bleiben stehen. Definitiv ein Loch im Raum-Zeit-Kontinuum. Gebt mir den Flux-Kompensator, ich halte es nicht mehr aus. Riether erobert den Ball und läuft. Mit dem letzten Tropfen Sprit im Tank. Einwurf FC. Wie lange wird schon nachgespielt? 4 Minuten? Wann pfeift der Doof endlich ab? Rensing mit seinem gefühlt tausendsten Abschlag ins Niemandsland zum Gegner. Drei Pfiffe des Schiedsrichters, die Arme Richtung Mittelkreis zeigend. Ein Jubelschrei, der sicherlich in der ganzen Stadt zu hören war. Und ein Jubelsprint eines Trainers, wie ihn die Bundesliga noch nicht gesehen hat.

Wie von der Tarantel gestochen läuft Stale Solbakken, zuvor schon als emotionaler Nordländer aufgefallen, vor die Südkurve – und schreit seine Freude heraus. Es schien, als würde die Zeit nun endgültig stehenbleiben. Ein Trainer und die Fans – allesamt bis zum Anschlag emotionalisiert, allesamt vereint im Jubel über drei Punkte. „Das ist das Bild der Saison“, denken viele. Ich auch. Dabei bin ich in meiner eigenen Welt. Zusammengesunken auf meinem Sitz. Völlig platt. Ohne Stimme und Kreislauf. Fast. Zumindest ohne Fassung. Was war da geschehen? War das jetzt die Wende zum Guten? Der Auftakt in eine glorreiche FC-Zukunft? Es schien mir so, als ich nach einiger Zeit in die immer noch glückstrunkenen Gesichter meiner Mitfans sah.

Am selben Abend wurde Sportdirektor Volker Finke entlassen, der sich seit Saisonbeginn einen zermürbenden Machtkampf mit Trainer Solbakken geliefert hatte. Ob der Norweger diesen Sieg ähnlich euphorisch gefeiert hat, fragte ich abends in vertrauter Pokerrunde, als die Nachricht über den Ticker hereinkam. Im Sportstudio lief die Zusammenfassung des Spiels, das zu diesem Zeitpunkt noch keiner der Anwesenden in Worte fassen konnte. Solbakken, wie er in der roten Vereinsjacke zu den Fans stürmt. Solbakken, wie er seinen Emotionen freien Lauf lässt. Solbakken, einer von uns.

Bald nicht mehr. Berlin war der letzte Tanz des haarlosen Blenders mit den coolen Sprüchen. Die Talfahrt des 1.FC Köln ging auch nach diesem epochalen Sieg weiter. Nach einer unsäglichen Leistung in Mainz, der schon mehrere Klatschen und eine falsch verkündete Trennung von Solbakken zuvorkamen, zog der Verein die Reißleine. Der sympathische Norweger war gescheitert: An einem untrainierbaren Team, dem jedwede Disziplin abging und das in einzelne Grüppchen zerfallen war. An einem unkooperativen Sportdirektor, der seine Machtspielchen mit dem Norweger trieb. An einem unfähigen Präsidium, das den Verein inmitten der Saison im Riss lies. Und vor allen Dingen: An sich. An seinen (vermeintlich revolutionären) taktischen Finessen. An seiner Sturheit. An seiner Laissez-Faire-Haltung. An seinem Entgegenkommen.

Doch in diesem einen Moment vor der Südtribüne, ich schwöre es, da war alles gut. Für einen Moment.

6 Kommentare » Schreibe einen Kommentar

  1. Hm, Heimdebüt von Otto Rehhagel im Müngersdorfer Stadion? Haut nicht ganz hin.
    Im übrigen wurde nicht Markus Babbel sondern Michael Skibbe bzw. Interimsrainer Rene Tretschok von Rehhagel beerbt.

  2. Mit dem Heimdebüt ist das im Vorsatz erwähnte 1:0 gegen Werder Bremen gemeint gewesen. Mit dem Hinweis, Rehhagel hätte nicht Babbel abgelöst, sondern Skibbe (bzw. Tretschok), hast du dagegen völlig recht!

  3. Pingback: Tor 18: Als „Anstandsdame“ beim Effzeh | Fokus Fussball

  4. Pingback: Das war 2012 – Jahresrückblickstöckchen |

  5. Sehr schöne Beschreibung, das trifft es sehr gut. War selber live dabei, und glücklich, dieses Spiel erleben zu dürfen. Leider wurde es nicht der Beginn einer Kehrtwende… Trotzdem: Danke dafür !!

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.