#Link11: Kulturensöhne

Kaum ein Begriff wird so oft überstrapaziert oder falsch kontextualisiert wie der der sagenumwobenen »Kultur«. Wenn wir ehrlich sind, dient er meist als Platzhalter von groben, sinnentstellenden Vereinfachungen. Besonders häufig fällt mir das im Zusammenhang mit dem höchst subjektiven und nicht selten elitär-ekligen Begriff der »Fankultur« auf, der heute ebenso eine Rolle spielt, wie sein großer Bruder, der auf nationale, beziehungsweise regionale Einheitlichkeit abzielt und häufig unter dem Künstlernamen »Mentalität« auftritt.

blogundpresseschau

1. 

»Der Sportreporter will den Menschen glauben, mit denen er zu tun hat. Darf er das noch?«

Ich steige mit zwei Debattenbeiträgen ein, die ausnahmsweise den Sport als Ganzes zum Thema haben. Claudio Catuogno reflektiert anhand des noch immer sträflich unterdiskutierten Dopingkomplexes in einem lesenswerten Essay die Widersprüchlichkeit der dem Geschäft so zuträglichen Aspekte »Ästhetik« und »Personenkult« und mahnt sich und seine Kollegen zu mehr kritischer Distanz (SZ). Autor Dietrich Schulze-Marmeling verhandelt die Doppelmoral im Umgang mit Spitzenathleten am Beispiel Max Kruse in einem langen Facebook-Post.

2. Wer kritische Distanz sucht, wird bei Peter Ahrens vom Spiegel regelmäßig fündig werden. Er berichtet von im Lichte der Anschläge von Brüssel und Paris geplanten Sicherheitsmaßnahmen für die EM in Frankreich und fragt sich, ob das noch eine Kultur der Freiheit ist. Ich erinnere mich grade mit einigem Unbehagen daran, wie ich nach der Nacht des 13. November (wenn auch nicht ganz so pointiert) befand, der Fußball dürfe nicht zu einer Bühne für europäische Muskelspiele werden und mich fragte, wem »Hochsicherheit« eigentlich überhaupt etwas bringt (Spox).

3. 

»Dieses [Organisationskomitee] hat es seit der WM-Vergabe vor fünf Jahren nicht geschafft, die Situation für die 4000 Beschäftigten auf den drei Stadionbaustellen al-Rayyan, al-Khor und al-Wakrah zu verbessern. Wie das mit den 70 000 Arbeitern gelingen soll, die während der geplanten Stosszeit im Jahr 2018 für die WM im Einsatz sein werden, ist schleierhaft.«

Nur ein kleinerer Themensprung: Die WM in Katar wird mit dem Leben tausender Zwangsarbeiter bezahlt. Immer noch. Die mittlerweile aus dem Zentrum des Medieninteresses gerückte Menschenrechtssituation vor Ort wird künftig eher schlimmer als besser werden (NZZ).

4. Mit Fußballstatistiken ist es so eine Sache. Einerseits liefern sie, so sie als Teil eines Kontextes betrachtet oder zur Stützung einer These verwandt werden, oft erhellende Einblicke. Andererseits ist jedem statistischen Wert eine gewisse Unschärfe anhängig, die oft bereits in seiner Definition begründet liegt. So bildet beispielsweise die gerne zum Beleg der Kreativität eines Offensivspielers herangezogene Begrifflichkeit des »Schlüsselpasses« nicht ab, ob dieser Pass ein zu hart gespielter, halbhoher Hoppelball, sondern nur, ob er der letzte Pass vor einer eigenen Torchance war. Die Profis Stefan Reinartz und Jens Hegeler haben daher ein Start-Up gegründet, das künftig die Wertigkeit eines Passes in Zahlen ausdrücken können will. Kollege Julian ist noch nicht überzeugt. Ich schließe mich dem an (Deutschlandfunk).

5. Als beim Spiel des BVB gegen Mainz auf der Tribüne das Schweigen des sonst so chaotisch lauten Westfalenstadions kurz vor und nach dem Abpfiff vom gemeinsamen YNWA zerrissen wurde, habe ich auf der Tribüne kurz und vergeblich um Fassung gerungen. Welch schöne, menschliche Geste im Angesicht einer Tragödie. Am nächsten Tag waren sich auch Berichterstatter rund um den Globus einig: Das ist wahre Fankultur!

Das Rote Erde Blog nimmt dieses traurig-schöne Schauspiel nun zum Anlass, den Aufstieg von »Retortenvereinen« wie RB Leipzig zu hinterfragen, die mit einer solchen Authentizität nicht dienen können. Vermutlich weil deren Anhänger nicht zu echten menschlichen Emotionen fähig sind? Mit Verlaub: Ein Artikel, der alles beinhaltet, was mit dem Kulturbegriff vieler Fußballfans nicht stimmt.

Dass Fans auch echte Probleme haben, verdeutlicht Rainer Kühn in seinem Beitrag über Sicherheitsmaßnahmen beim Derby Preußen gegen Osnabrück.

6. Von der roten Erde – folgerichtig – zur roten Brause: RB Leipzig erlebte mit 2 Niederlagen aus 3 Spielen und dem Verlust der Tabellenführung etwas wie eine erste kleine Saisonkrise. Das Rotebrauseblog ordnet den Status quo seines Teams anhand einiger Statistiken der 5er-Spitzengruppe der zweiten Liga in einen größeren Kontext ein und wagt ein dezentes Fazit. So kann man eben auch bloggen.

7. Apropos Kultur: Frank Willmann hat sich das albanische Hauptstadt-Derby (FK gegen Partizan) vor Ort gegönnt und dabei festgestellt, dass dort einige Dinge dann doch ein wenig anders laufen, als man es hierzulande gewohnt ist. Ein lesenswerter Erlebnisbericht (11 Freunde).

8. Stellt euch vor, ihr steht total auf Fußball, eure Heimatstadt hat aber kein eigenes Team. Stellt euch nun weiter vor, ihr müsstet für das nächste ernsthafte Fußballmatch regelmäßig in eine der gefährlichsten Kartell-Hochburgen der Welt reisen. Ich weiß nicht, ob das nun schon Kultur ist. Aber ich bin mir sicher, das jede Kultur irgendwann mal einen Anfang hat.

9. »West-Ham hat einen 18-jährigen Deutschen für 11 Millionen gekauft!« Was war ich aufgeregt, als 2009 von einem neuen Supertalent geschrieben wurde. »Der wird sicher der neue Bernd Schneider!« Savio Nserenko schlug dann einen anderen Weg ein. Eine im Licht aktueller Ereignisse interessante Geschichte darüber, dass Reichtum und Druck nicht jeden jungen Menschen zu stabilisieren vermögen (SZ).

10. 

»Wie schlimm es für den finanzstärksten Verein der Welt aktuell sportlich bestellt ist, zeigt nicht nur ein Blick auf die Tabelle, sondern die Tatsache, dass Louis van Gaals United, die uninspirierendste Red-Devils-Mannschaft der vergangenen 30 Jahre, im Vergleich mit den trägen Nachbarn im Etihad-Stadion weitaus jünger, beweglicher und zwingender wirkte.«

Es ist derzeit nicht gut bestellt um Englands (finanziell) ganz Große. Raphael Honigstein erklärt, warum Pep Guardiola für Man City schon zum Problem geworden ist, bevor er überhaupt sein Amt antritt (The Red Bulletin). Wie mies es dagegen dem Stadtrivalen (sportlich) geht, sehe man daran, dass der große Hoffnungsträger dort Bastian Schweinsteiger heiße, schreibt Simon Hughes (Independent). Au Backe!

11. Zum Abschluss noch ein schöner Reisebericht. Bayern-Fan Sammy hat den Rahmen zweier Fußballspiele genutzt, um zwischen Hochnebel und Bengalorauch den Balkan zu erkunden (Sammy sagt…).

Gedenken
Zum Leben des heute verstorbenen Johann Cruyff sei ein Artikel aus einer vergangenen #Link11 (Platz 11) empfohlen. Rust in Vrede.

(Da die Nachricht mich erst unmittelbar vor der Veröffentlichung erreichte, nimmt die heutige #Link11 leider nicht umfangreicher auf Cruyffs Wirken Bezug.)

Geburtstagskind des Tages

Wer hat heute Geburtstag? Und wer ist wer?
(Auflösung von gestern: Alfred Nijhuis wurde 50)

Field Reporter

»Die deutsche Kultur steht ganz weit oben bei uns. Wir gucken die Spiele immer in der »Bierschenke« in London, wo es deutsches Bier und Essen gibt. Das Bier wird meist aus Krügen getrunken. Wenn Dortmund gewinnt, dann trinken wir nachher meist aus einem BVB-Stiefel.«

Konstantin Westenhoff spricht mit Ben McFadyean, dem Vorsitzenden von Englands größtem BVB-Fanclub, über (Na was wohl?) Kultur. Und Bier. Und Kloppo (11 Freunde).

Mixed Zone
Kultur: Thomas Eichin macht sich Sorgen um Afrika (FAZ)  + + + Couragiert: Antirassistische Dynamo-Fans + + + Noch hipper als Spielverlagerung.de: Statistik-Skizzen im Retro-Look (Soccer in Sepia) + + + Besonders: Fußball mit Prothese (FAZ) + + + Romantisch: Ein Duett mit Eric Cantona (taz)

6 Kommentare » Schreibe einen Kommentar

  1. Schlechter Stil, einen Blog-Beitrag gleich in der „Anmoderation“ zu diskreditieren und einen anderen als holzschnittartig als gutes Beispiel zu feiern. Ich finde in beiden Beiträgen viel richtiges und einiges kritikwürdiges. Jedenfalls nichts, was Niedermache rechtfertigt.

    • Hi,

      ich lasse gerne auch mal ein wenig persönliche Meinung (oder: Geschmack) in die Artikelbesprechung einfließen. Ein „Abfeiern“ von Rainers Post kann ich da nicht herauslesen, ich fand lediglich, dass die dort dargestellten Vorgänge eher problematisch sind, als die vermeintliche Echtheit oder Unechtheit der Emotionen anderer Fans. :-)

      Gruß,
      David

      • Aber derart mit dem Holzhammer? Selten hier so gelesen und „overdone“.
        btw. 2. Post kann gelöscht werden. Dachte, der erste sei nicht abgesandt worden.

  2. Pingback: #Link11: Kulturensöhne | Fokus Fussball - Institut für Fankultur e.V.

  3. Die Seite ist wohl ins Stocken gekommen, wann gibt es wieder regelmäßig Neues aus Blogs und Presse? Ich vermisse die tägliche Dosis, kompakt über den journalistischen Blick auf den Fußball informiert zu werden…

  4. Seid Ihr alle verstorben?
    Lebt der Hausmeister noch?
    Habt Ihr ein neues Zuhause gefunden?
    Ich würd`s Euch gönnen.

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