Datenschrank: The Line-ups They Are a-Changin‘

Dieser Artikel befasst sich mit der vergangenen Saison 2014/15, genauer: damit, wie stark die Teams ihre Aufstellungen veränderten und mit ihren Kadern umgingen. Es soll darum gehen, wie sehr die Aufstellung, also das Ensemble aus elf Spielern, die tatsächlich auf dem Platz standen, bei den Mannschaften im Laufe der Saison schwankte.

Um diese Schwankung in Zahlen zu fassen, muss man sich üblicherweise darauf beschränken, die Anzahl eingesetzter Spieler zu vergleichen. Allerdings fällt dabei Wichtiges unter den Tisch: die Einsatzzeit der jeweiligen Spieler. Denn offenbar könnte ein Team A mit 22 Spielern durch die Saison gehen und dabei jeden Spieler genau 17 Mal durchspielen lassen. Das andere Extrembeispiel wäre ein Team B, das einen unumstrittenen Stamm von 11 Spielern hat und 11 weitere Spieler lediglich gelegentlich einwechseln würde. Beide hätten am Ende der Saison 22 Spieler eingesetzt und doch ein ganz unterschiedliches Maß an Variation in ihren Aufstellungen präsentiert. Wie könnte man diese also besser in einer einzigen Zahl für jedes Team darstellen?

Entropie

Physik und theoretische Informatik kennen das Konzept der sogenannten Entropie. Während in der Physik damit das Maß an Unkenntnis über einen atomaren Zustand bezeichnet wird, nennt die Informatik so den Informationsgehalt einer Nachricht. Hilft das weiter? Versteht man ein Bundesligateam als ein sich im Laufe der 3.060 Spielminuten veränderndes Objekt von 11 Spielern, ist der »Zustand« dieses Objekts die Aufstellung zu einem Zeitpunkt in einem Saisonspiel. Und je mehr das Team seine Aufstellung variiert hat, desto größer ist die Unkenntnis über diesen Zustand – bei Team A fällt es schwer, eine Aufstellung zu erraten, bei Team B ist es leicht. Die »Nachricht« ist in diesem Sinn die Liste der Spieler, die auf dem Feld stehen. Sind es ohnehin immer dieselben, ist der Informationsgehalt gering, wird viel variiert, ist er hoch.

Es scheint also einen Versuch wert, diese »Kaderentropie« zu berechnen. Wer sich für die mathematischen Details nicht weiter interessiert, kann schon zum ersten Diagramm springen. Die Kaderentropie K soll, gemäß der Berechnung in der theoretischen Informatik, folgendermaßen ermittelt werden:

Für jeden Spieler S ist der Spielanteil A(S) das Verhältnis seiner Einsatzminuten zur Gesamtsumme aller Spieler seines Vereins über die gesamte Saison. Im Sinne der Informationstheorie ist jeder Spieler ein Zeichen in der Nachricht und sein Spielanteil die Auftrittswahrscheinlichkeit dieses Zeichens. H ist dann die Entropie der Nachricht, die der Aufstellung des Vereins V entspricht. Der Übergang von H zu K ist nur noch kosmetischer Natur.

Anwendung auf die oben eingeführten Beispielteams A und B liefert K(A)=22 und K(B)=12,6 (bei 90min Gesamtspielzeit pro Ersatzspieler). Der unterschiedlich verteilten Einsatzzeit wird also wie erhofft Rechnung getragen. K(A)=22 illustriert den Sinn des Potenzierens: Eine Mannschaft von n gleichmäßig eingesetzten Spielern hat eine Kaderentropie von genau n. Kommen wir zu den echten Kadern:

Um mit diesen nackten Zahlen mehr anfangen zu können, werfen wir im Folgenden einen Blick darauf, in welchem Verhältnis die Kaderentropie zu anderen Werten steht. Vier Klubs sollen dabei immer wieder etwas detaillierter hervorgehoben werden: Borussia Mönchengladbach, der FC Augsburg, Mainz 05 und der Hamburger SV. An der Hochachse der folgenden Streudiagramme ist jeweils die Kaderentropie abzulesen, Teams mit hoher Kaderentropie stehen also weiter oben. Auf den Rechtsachsen sollen nacheinander einige andere Maße eingetragen werden, wie weit rechts das Team steht, hängt also von diesem Vergleichswert ab.

Verhältnis zur Anzahl eingesetzter Spieler

Auf der Rechtsachse ist die Anzahl der tatsächlich im Lauf der Bundesligasaison eingesetzten Spieler eingetragen (nicht also die Anzahl der Spieler im Kader). Der Zusammenhang ist klar: Es herrscht eine starke Korrelation zwischen der Anzahl eingesetzter Spieler und der Kaderentropie. Dennoch gibt es eine bemerkenswerte Streuung: So hat Mainz 05 beachtliche 29 Spieler eingesetzt, ist aber mit seiner Kaderentropie näher an Borussia Mönchengladbach (11 Spieler weniger) als am HSV (2 Spieler mehr). Warum das? Sehen wir uns den HSV und Mainz etwas genauer an:


Der HSV hat zwar extrem viele Spieler eingesetzt, aber den meisten davon durchaus erhebliche Einsatzzeit zukommen lassen, wie an den vielen Kuchenstücken der linken Hälfte zu erkennen ist – selbst Arslan als letztes namentlich bezeichnetes Kuchenstück kam noch auf 653 Minuten. Bei Mainz dagegen konzentrierte sich die Spielzeit einerseits auf einige Stammspieler (die Hälfte der Spielzeit verteilt sich auf 6 Mann), andererseits kamen vier ihrer Leute (Koch, Parker, Slišković, Pflücke) jeweils weniger als 10 Minuten in der gesamten Saison zum Einsatz, sie sind in diesem Diagramm gar nicht mehr zu erkennen. Beides schwächt sowohl den subjektiven Eindruck von Variation als auch die Kaderentropie ab. Die Kaderentropie scheint also tatsächlich geeignet sein, die Schwankungen in den Aufstellungen zu quantifizieren.

Verhältnis zum Spielanteil der ersten Elf

Die Rechtsachse gibt hier an, welcher Anteil der Spielzeit (in %) auf die elf Spieler mit der meisten Einsatzzeit entfällt. Setzt ein Team nur elf Spieler ein, beträgt dieser Anteil 100%, rotiert er wie das am Anfang genannte Beispiel-Team A 22 Spieler gleichmäßig durch, beträgt er 50%. Wir sehen auch hier einen Zusammenhang – niedrige Kaderentropie und ein hoher Spielanteil der ersten Elf gehen Hand in Hand. Trotzdem ist das Paradebeispiel in dieser Disziplin nicht das Team mit der geringsten Kaderentropie, sondern der FC Augsburg:

Fast 80% der Spielzeit verteilen sich auf die ersten elf Spieler (Ragnar Klavan bis Dominik Kohr). Das sieht doch schon nach sehr wenig Veränderung aus. Wie also schafft es Borussia Mönchengladbach, bei der Kaderentropie einen noch niedrigeren Wert zu erreichen? Die Antwort liegt links oben im Kuchendiagramm: Jenseits der ersten Elf setzte Augsburg 14 weitere Spieler ein, Gladbach nur 7:

Das Gladbacher Kuchendiagramm scheint ein Musterbeispiel für Rotation zu sein: ein Kreis annähernd gleichmäßig eingesetzter Spieler, innerhalb dessen zwar viel variiert wird, da der Kreis eingesetzter Spieler aber kleiner ist als bei allen anderen Bundesligisten, ist die Variation insgesamt aber sehr gering. Ein Blick zurück auf den Vergleich mit der Spielerzahl: Die graue diagonale Linie ist die »Ideallinie« der Rotation: hier ist Kaderentropie gleich Anzahl eingesetzter Spieler. Wer drauf liegt, hat nach Definition der Kaderentropie alle seine Spieler gleichmäßig eingesetzt, also gleichmäßig rotiert. Gladbach liegt dieser Ideallinie am nächsten, der Kaderentropie gemäß sind sie also das Team, bei dem man mehr als bei jedem anderen von Rotation sprechen kann. Mainz dagegen hat, wie oben ausgeführt, viele Spieler eingesetzt, mit einigen gesetzten Spielern und vielen Spielern ohne nennenswerte Einsatzzeit aber alles andere als gleichmäßig rotiert. Der Verein liegt daher weit abseits dieser Rotations-Linie.

Verhältnis zur Anzahl der erreichten Punkte

Diesmal sind auf der Rechtsachse die Punkte in der Bundesligasaison 2014/15 eingetragen. Hier sticht kein eindeutiger Zusammenhang ins Auge. Die Kaderentropie scheint bei genauerer Betrachtung weniger mit der Punktausbeute des Vereins als mit seinem Abschneiden im Vergleich mit seinen Erwartungen zusammenzuhängen. Schließlich sind die vier Vereine mit der größten Kaderentropie der HSV, Schalke, Dortmund und Bremen, also allesamt Klubs, die deutlich hinter den Erwartungen zurückblieben – in den Fällen von Schalke, Dortmund und Bremen akut in bestimmten Phasen der Saison, im Fall von Hamburg chronisch. Die fünf Klubs, die sich dagegen am anderen Ende der Skala abgesetzt haben, haben in Gladbach, Augsburg und Köln eine sehr erfolgreiche Saison absolviert oder im Fall von Leverkusen und Hoffenheim zumindest ihr vor der Saison ausgegebenes Ziel problemlos erreicht und dabei phasenweise über den Erwartungen gespielt.

Dennoch ist eine hohe Kaderentropie noch kein Anzeichen schlechten Fußballs: So weist der Deutsche Meister Bayern München einen höheren Wert als der Tabellenletzte aus Paderborn auf. Man mag anführen, dass die Wechsel bei den Bayern schon durch die Dreifachbelastung erzwungen seien. Betrachtet man aber die ebenfalls lange international vertretene Borussia aus Mönchengladbach, wirkt die Begründung für sich alleine nicht mehr besonders stichhaltig. Vielmehr erinnert man sich an einen weiteren Grund für den FC Bayern, viel zu rotieren: Sie mussten in der vergangenen Saison mit vielen Verletzungen umgehen. Lange Ausfälle von Badstuber, Martínez, Thiago, Alaba und Lahm prägten die Saison. Vergleichen wir die Kaderentropie also mit den Verletzungen in den Teams.

Verhältnis zur Ausfallzeit pro Spieler

Als Maß für die Verletzungen sind hier auf der x-Achse die durchschnittlichen Ausfalltage pro Kadermitglied vermerkt. Hier ist wieder ein Zusammenhang zu erkennen: Wer wenige Verletzungen im Kader hat, verändert seine Aufstellung auch weniger. Mönchengladbach kam bei ihrer Rotation im kleinen Kreis sicherlich entgegen, dass sie hinsichtlich der Verletzungen einen großen Vorteil gegenüber dem Rest der Liga hatten. Abgesehen von einigen Wehwehchen des Routniers Martin Stranzl waren kaum gravierende Ausfälle zu verzeichnen. Ob hier von Glück oder Pech gesprochen werden kann, ist allerdings fraglich: Trainingssteuerung, Verletzungsprävention und nicht zuletzt die Kaderzusammenstellung dürften hierbei eine wichtige Rolle einnehmen.

Die drei anderen hervorgehobenen Teams Augsburg, Mainz und Hamburg waren einander in der Verletzungsstatistik sehr ähnlich, veränderten ihre Aufstellungen aber in ganz unterschiedlichem Maße. Der Umgang mit dem Spielermaterial, die Schwankungen in der Aufstellung und damit die Kaderentropie scheinen letztlich eher Konsequenz von Entscheidungen der sportlichen Führung zu sein und damit ein Aspekt des Umganges mit einer Fußballmannschaft.

Text: Julian Ritter // Grafiken: Jens Peters // Vielen Dank an fussballverletzungen.com für die Ausfallstatistik

5 Kommentare » Schreibe einen Kommentar

  1. Pingback: #Link11: Schluss mit Fußball-Methadon | Fokus Fussball

  2. Sehr interessanter und guter Artikel!
    Aber könnte es für Gladbach durch höhere(s) Belastung/Niveau der Cl (im Gegensatz zur Europa league) nicht zu größeren Verletzungsproblemen bei Spielern kommen?
    Und gute Prävention hin oder her, man kann immer Pech haben, wenn sich ein wichtiger Spieler bei einem bösen Foul schwer verletzt und mehrere Wochen ausfällt. Wenn man sich die Daten so anschaut, dann könnte so etwas wohl durchaus zum Problem werden für die Fohlen, aber ob etwas in der Art eintritt oder nicht bleibt abzuwarten.

    • Ich wollte nur kurz erläutern, warum der Begriff »Verletzungspech« zu kurz greift. Wer Obasi verpflichtet, muss sich nicht wundern, wenn er häufiger verletzt als fit ist. Wer zu intensiv trainiert, muss damit rechnen, dass die Bänder und Muskelfasern schneller reißen, so ähnlich habe ich es zumindest bei Anstoss 3 gelernt. Mit den allgemeinen Ursachen für Verletzungen hat sich Rene Maric bei Spielverlagerung beschäftigt.

      Und: Klar, mit ein wenig Pech muss man im Dezember zu einem Pokalspiel auf einen ungepflegten Regionalligarasen und verliert den Mannschaftskapitän, weil der im Boden hängen bleibt und sich das Kreuzband reißt. Da wird dann die Arbeit in der Reha wichtig, von der hier noch gar nicht die Rede war. Aber wie gesagt: Es sind nur Randaspekte, ging mir darum, anzumerken, dass die Verletzungsstatistik nicht nur vom Schicksal abhängt.

  3. Das man mit dem Thema ein komplett neues Fass aufmachen würde ist klar. Ähnliche Diskussionen gab es letzte Saison schon um Chelsea, wo gegrübelt wurde, ob Mourinho nicht zu wenig rotiert hat.
    Mal sehen, ob Gladbach so etwas wie den Goldenen Weg gefunden hat.

  4. Pingback: Hallo Bundesliga! – Rund um den Brustring am Freitag, 14. August 2015 | Rund um den Brustring

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