Schiri! Foul! Hand! Aus!

Mal ein paar grundsätzliche Gedanken aus der Perspektive des Schiedsrichters zum Thema Spielerproteste. Ich unterscheide hier der Einfachheit halber zwei Varianten davon: zum einen den Protest, den Spieler erheben, wenn sie glauben, eine regelwidrige Handlung bemerkt zu haben (oder ihr Opfer geworden zu sein). Zum anderen den Protest gegen eine getroffene Entscheidung des Schiedsrichters.

Variante 1 – um die es hier in erster Linie geht – soll den Unparteiischen aufmerksam machen: Hier, guck mal, Schiri, Foulspiel oder Handspiel. Oder Ball im Aus, Einwurf für uns, Eckstoß oder Abstoß. Die Spieler sind damit grundsätzlich schneller als der Referee mit seiner Entscheidung, weil er sie ja erst mal treffen muss, im Kopf und indem er gegebenenfalls die Pfeife zum Mund führt und hineinbläst. Das heißt auch: Er gleicht in diesem Moment gezwungenermaßen die Reaktion der Spieler mit seiner eigenen Wahrnehmung ab – und zwar unter Druck, denn er muss ja in Sekundenbruchteilen beurteilen, ob an dem Protest etwas dran ist oder nicht. Und er weiß, dass seiner Entscheidung womöglich weitere – für ihn potenziell unangenehme – Reaktionen folgen werden: Pfeift er nicht, gehen die Reklamationen der betreffenden Mannschaft wahrscheinlich weiter, pfeift er, reklamiert vielleicht das andere Team. Handelt es sich um eine Situation im Graubereich (also um eine, bei der es einen Ermessensspielraum gibt), wird der Schiedsrichter außerdem berücksichtigen, wie sich eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung auf die Partie und auf seine Spielleitung auswirkt.

Diese Variante 1 erfordert vom Schiedsrichter immer eine unmittelbare Schwarz-Weiß-Entscheidung: Spielunterbrechung oder Weiterspielen, dazwischen gibt es nichts, auch wenn es sich um eine Szene im Grenzbereich handelt. Die Entscheidungsfindung wird dabei umso schwieriger und dringlicher, je heftiger der Protest ist. Dazu muss noch gesagt werden, dass es eine bestimmte Heftigkeit des Protestes gibt, die sich nicht ohne Weiteres zwecks massiver Beeinflussung des Referees »erlernen« lässt, sondern spontan, situativ und »ehrlich« auftritt. Als Beispiel seien hier die Reklamationen der Bayernspieler im DFB-Pokal-Halbfinale gegen den BVB nach Marcel Schmelzers Handspiel in der 56. Minute genannt. Schiedsrichter Peter Gagelmann wird in diesem Moment klar gewesen sein, dass da etwas war, etwas gewesen sein muss. Nur hat er es eben nicht gesehen (und sein Assistent auch nicht), deshalb konnte er es auch nicht pfeifen.

Bei Medhi Benatias Handspiel in der 2. Minute – bei dem sich darüber streiten lässt, inwieweit es das Kriterium der Absicht erfüllte und damit strafbar war – lag der Fall anders, und hier kommen wir in den Bereich der Schiedsrichtertaktik. Niemand hat reklamiert, nicht mal die Dortmunder, es erhob sich kein Geschrei im Stadion, der ganze Ablauf dieser Szene deutete nicht im Geringsten auf eine möglicherweise regelwidrige Handlung hin. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Wenn das so ist und man als Schiedsrichter eigentlich etwas anderes gesehen hat, zweifelt man an seiner Wahrnehmung (und die ist nun mal unmittelbar maßgebend): War es vielleicht gar kein Handspiel? Es reagiert schließlich überhaupt niemand! Und wenn man nicht zweifelt, fragt man sich: Mache ich da jetzt wirklich ein Fass auf? Jeder Unparteiische hat schließlich immer auch das Ziel, ein Spiel möglichst reibungslos über die Bühne zu bringen. Und, ganz wichtig, Akzeptanz für sein Vorgehen zu haben. Wenn also alle, wirklich alle in Grenz- und Zweifelsfällen mit der Entscheidung »Weiterspielen« gut leben können, warum dann anders handeln?

Ein anderes, harmloseres Beispiel: Der Ball geht nach einem Zweikampf ins Seitenaus. Der Schiedsrichter-Assistent glaubt, gesehen zu haben, dass ein roter Spieler zuletzt am Ball war, es also einen Einwurf für Blau geben müsste. Trotzdem bewegen sich alle, wirklich alle Spieler in Richtung blaues Tor, weil sie mit einem Einwurf für Rot rechnen. Und da kommt auch schon der rote Spieler, der den Einwurf ausführen will. Wenn der Assistent jetzt die Fahne zur Verwunderung aller in die andere Richtung zieht, kommt sofort Unruhe auf, ein blauer Spieler läuft zur Seitenlinie und beginnt mit dem roten Spieler ein Gerangel um den Ball, es drohen Unsportlichkeiten. Er mag mit dem Fahnenzeichen vielleicht sogar richtig liegen, trotzdem wäre es besser gewesen, einen Einwurf für Rot zu signalisieren. Streng genommen mag das zwar falsch sein, aber warum Proteste, minutenlange Hektik und vielleicht sogar eine Verschärfung des Spielcharakters riskieren, wenn sich ohnehin schon alle einig waren und dem Gespann die Entscheidung gewissermaßen abgenommen haben?

Was wäre nun gewesen, wenn Spieler des BVB in der 2. Minute reklamiert hätten? Dann hätten sie Peter Gagelmann gezwungen, eine von zwei möglichen Entscheidung zu treffen (Strafstoß oder Weiterspielen), die er so nicht mehr treffen musste, weil sie ihm de facto abgenommen wurde. Wenn aber kein Mensch im Stadion ein strafbares Handspiel gesehen hat, macht man sich das Leben als Referee nicht ohne Not selbst schwer, indem man auf den Punkt zeigt. Um nicht falsch verstanden zu werden: Selbstverständlich muss man Entscheidungen auch mal gegen Widerstände durchsetzen, wenn man von ihnen überzeugt ist. Aber das sind normalerweise Entscheidungen, über die sich nicht das ganze Stadion wundert, sondern nur die eine Hälfte.

Proteste von Spielern können niemals ein Beweis für etwas sein, ein Indiz dagegen schon. Nicht mehr und nicht weniger – die Entscheidung liegt selbstredend beim Referee. Und damit noch kurz zur eingangs erwähnten Variante 2, also dem Protest gegen eine getroffene Entscheidung. Hier bleibt dem Schiedsrichter grundsätzlich nur, diese Entscheidung durchzusetzen (von den ganz, ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, in denen die Reklamationen so ungewöhnlich heftig sind, dass der Unparteiische sich veranlasst sieht, den betreffenden Spieler zu fragen, wie Uwe Kemmling im April 1998 nach dem Handspiel des Schalkers Oliver Held im Spiel gegen Köln – das Ergebnis war allerdings katastrophal). Häufen sich die Proteste – was immer auch bedeutet, dass die Akzeptanz des Schiedsrichters gelitten hat –, wird er überlegen, wie er die Spieler wieder ins Boot holen kann.

Die schlechteste Idee ist es dabei, offensichtlich falsche Konzenssionsentscheidungen zu treffen. Ein gangbarer Weg besteht dagegen darin, in Grenzsituationen mit Spielraum den einen oder anderen Pfiff für die vermeintlich benachteiligte Mannschaft zu setzen, wenn (!) es möglich und sinnvoll ist. Das betrifft allerdings vor allem Entscheidungen ohne potenziell spielentscheidenden Charakter, also vor allem Zweikämpfe im Niemandsland. Aber dazu werden wir im Podcast von Collinas Erben mal ein bisschen mehr erzählen.

12 Kommentare » Schreibe einen Kommentar

  1. Sehr interessante Aufschlüsselung!
    In manchen Punkten erkenne ich mich als Erzieher im Kindergarten wieder, wo man zu Konfliktsituationen gerufen wird, die man nicht gesehen hat. Oder man sieht etwas, das nicht in Ordnung war, das aber unter den Kindern kein Thema ist.

  2. Sehr interessanter Artikel und gut geschrieben!
    Was mich als Zuschauer schon lange interessiert ist, inwiefern sich das Handheben bei einem vermeintlichen Abseits auf die Wertung des Assistenten auswirkt. Ich rege mich immer auf, wenn Spieler die Hand heben (und dazu vielleicht sogar noch stehen bleiben – sicher sich aber deswegen langsamer bewegen) und den Stürmer so davon ziehen lassen.
    Plaudere hier doch ein bisschen aus dem Nähkästchen ;)

    • Wenn ich zum einen von mir selbst ausgehe und zum anderen davon, was die Kollegen so erzählen, muss ich sagen: Die Auswirkung ist recht gering. Das hängt wesentlich damit zusammen, dass der Laufweg des Assistenten und seine Positionierung ja stets danach ausgerichtet sind, wo sich der vorletzte Verteidiger gerade befindet. Das heißt, man hat immer eine optimale Position zur Beurteilung von Abseitssituationen (oder sollte sie zumindest haben), besser als jeder Spieler auf dem Platz. Das kann man so wohl nur vom Abseits behaupten, deshalb ist die Selbstsicherheit in diesen Szenen oft besonders groß. Ein Spieler muss den Assistenten auch gar nicht erst durch das Heben des Armes auf eine mögliche Abseitsstellung aufmerksam machen, denn der guckt ja ohnehin schon ständig danach. Insofern wird das von vielen Referees und Assistenten eher als Protestfolklore begriffen, die man nicht sonderlich ernst nimmt.

  3. Bei meinem gestrigen Matchbesuch ist der Fall eingetreten, dass ein Spieler für ein Foul (wohl überzogen) die gelbe Karte bekommen hat und diese Entscheidung derart kritisiert haben muss, dass er in der selben Aktion gelb-rot bekommen hat.
    Ich hab mir dann die Frage gestellt, ob der Schiedsrichter für diese zweite Gelbe die gleichen Maßstäbe angelegt hat, wie er das bei einem nicht vorbelasteten Spieler tun würde.
    Da gehts doch auch um Spieltaktik des Schiedsrichters könnte ich mir vorstellen.
    Wie hast du das in solchen Situationen gehalten? Ist man da besonders sensibel, weil er nicht nur eine Entscheidung sondern eine daraus resultierende Bestrafung in Zweifel zieht oder hört man da lieber mal weg, so dass er schon besonders heftig kritisieren muss, er sozusagen um die gelb-rote bettelt. Oder ist das alles egal und man ist genauso wenig oder stark sensibel wie in jeder anderen Aktion?

    • Ich selbst spreche nur ungern Verwarnungen wegen Meckerns aus, weil das immer auch bedeutet, dass hier ein Angriff auf die Autorität des Schiedsrichters nur mit repressiven Mitteln unterbunden werden kann und nicht mehr mit der Persönlichkeit. Aber manchmal geht es eben nicht anders. Wenn sich ein Spieler dann nach dem Erhalt der Gelben Karte immer noch nicht beruhigt, mache ich ihm unmissverständlich klar – auch mit den Mitteln der Körpersprache –, dass er jetzt besser schweigt, wenn er die Partie zu Ende spielen will. Dabei muss man sich als Schiedsrichter manchmal selbst zwingen, keine Überreaktion zu zeigen und nicht noch Öl ins Feuer zu gießen – schließlich ist es schon ein ziemlicher Affront, wenn selbst eine Verwarnung offenkundig wirkungslos bleibt. Ich sag’s mal so: Wenn dann Gelb-Rot kommt, muss der Spieler schon richtig »on fire« gewesen sein. Nach außen sollte in einem solchen Fall deutlich werden, dass er nicht wegen einer Kleinigkeit geflogen ist und der Schiedsrichter hier kein Vergeltungsbedürfnis ausgelebt hat. Keine Alternative gibt es aus meiner Sicht, wenn eine Gelbe Karte mit demonstrativem höhnischen Applaus quittiert wird. Das ist so offensichtlich, da hat man dann keine Wahl mehr.

  4. Interessante und logische Einblicke. Schade nur, dass die Schlussfolgerung für einen Spieler heissen muss: Auf jeden Fall sofort protestieren, sonst pfeift womöglich der Schiri nicht. Aber gerade dieses dauernde Protestieren nervt gewaltig – Fussball ist sehr unehrlich im Vergleich zu anderen Sportarten!

  5. Stimmt Jochen! Ich finde das lächerlichste ist, dass die Spieler bei einem (groben) Foulspiel auf den Schiri einschreien, anstatt auf den foulenden Spieler. Iregendwie sind die Schiris (oder die Regelmacher) aber auch ein bisschen selber Schuld. Ein losstürmen nach einem Foulspiel auf den Schiri wird meistens toleriert, ein losstürmen auf den Gegenspieler dagegen fast nie.

    Ich hab mir überlegt, mal einen Spieltag eine ‚Aktion Respekt‘ durchzuführen wäre sehr spannend. Soll heissen bei jedem Motzen und Arme verwerfen gibts konsequent Gelb, und somit möglicherweise auch viele Platzverweise. Das könnte doch die Spieler wiedermal ein wenig ‚des Respektes Willen‘ wachrütteln;)

  6. Interessant wäre es, bei zu heftigen Reklamationen einfach gar nicht zu pfeifen, ungeachtet dessen ob die Aktion tatsächlich stattfand bzw. pfeifenswert war oder nicht.
    Ruckzuck würde dieses ewige zum-Schiri-Geschreie-und-Gewinke aufhören.

    • Genau das tun nicht wenige Schiedsrichter (ich gehöre dazu), wenn es ihnen zu viel wird. Auf diese Weise fängt man so manchen Quälgeist wieder ein. Ich hab zu besonders penetranten Spielern auch schon gesagt: »Spar dir das ewige Lamentieren, sonst bekommst du keinen Freistoß mehr von mir.« Natürlich ist das nicht wörtlich gemeint, aber in 50/50-Situationen, an denen dieser Spieler beteiligt ist, einfach mal die Pfeife schweigen zu lassen und die anschließenden Proteste komplett zu ignorieren – das kann durchaus etwas bewirken. Die Spieler müssen beizeiten merken, dass man sich keine Entscheidungen aufquatschen lässt.

      Das andere Extrem habe ich allerdings auch schon erlebt, und es war seltsam. Als die A-Jugend-Regionalliga noch die höchste Jugendspielklasse war, hatte ich häufiger die Mannschaft von Bayer 04 Leverkusen zu pfeifen. Trainer damals: Thomas Hörster. Der hat jeden seiner Spieler, der gegen eine Schiedsrichter-Entscheidung protestierte, an den Spielfeldrand zitiert und ihn zwei Minuten zusehen lassen. Mit der Zeit hat dann tatsächlich niemand mehr etwas gesagt. Hört sich einerseits traumhaft für den Schiedsrichter an, war aber sehr ungewohnt und fühlte sich komisch an. Ich finde auch nicht, dass man Emotionen dermaßen radikal unterbinden sollte.

      Ich weiß, dass es Nicht-Schiedsrichtern schwer zu vermitteln ist, aber die Reaktionen der Spieler – manchmal auch in Form des Protestes gegen Handlungen des Gegners oder Entscheidungen des Referees – können Indikatoren sein und teilweise sogar weiterhelfen (situativ wie für die Spielleitung generell), wie im Text schon angedeutet. Mit der Zeit lernt man auch ganz gut, überzogene oder künstliche Aufregung von durchaus berechtigten Einwänden oder Hinweisen zu unterscheiden. Das Erstgenannte ist oft genug lästig und überflüssig, aber man hat genügend Mittel zur Hand, um ihm entgegenzuwirken. Man darf auch nicht vergessen, dass der Schiedsrichter auf dem Fußballplatz nun mal der unumschränkte Herrscher ist – Polizist, Staatsanwalt und Richter in einer Person – und die Spieler keinerlei festgeschriebene Möglichkeit haben, seine Entscheidungen anzufechten. Da kommt es begreiflicherweise zu Konflikten und Reklamationen. So lange die sich im Rahmen halten, ist alles okay.

  7. Hallo,

    Ihr wolltet doch Material zu tätlichen Angriffen auf Schiedsrichter haben (CE07 oder -08). Ein besonders fieses Beispiel gibt´s aus Peru, hier:

    http://www.spiegel.de/video/fussball-in-peru-torwart-tritt-schiedsrichter-video-1579187.html

    Wenn ihr mich fragt – derlei Aktionen gehören nicht vor die Sport-, sondern vor die ordentliche Gerichtsbarkeit. Das ist eine vorsätzliche Körperverletzung, vielleicht auch eine gefährliche (wegen der Stollenschuhe), die mit einer Inkaufnahme wegen des Spiels (= strafrechtliche Einwilligung in die Verletzung, die zur Verneinung der Rechtswidrigkeit führt) nichts mehr zu tun hat, ganz abgesehen davon, dass sie für den Schiri eh nicht gelten dürfte. Der Verband sollte in solchen Fällen ganz konsequent Strafanzeigen stellen und, falls erforderlich, auch die erforderlichen Strafanträge (ggf. durch den Schiri).

    Grüße

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