Tor 4: Die Begeisterung liegt in der Familie

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Leider passt es oft nicht in mein Zeitbudget auch die Premier League zu verfolgen. Ein paar Ausschnitte hier, eine Zusammenfassung online, ganz selten mal ein komplettes Spiel am Sonntag. Dennoch verfolge ich die Premier League gewissenhaft. Im Blog Medien-Sport-Politik. Dort schreibt ein Kenner der höchsten Inselspielklasse, der neben einem Faible für Werder Bremen auch in Englands Haupstadt einen Lieblingsclub hat. So weiß ich dann doch was Per, Mesut und Lukas so treiben und lerne sogar Spieler wie Yannick Bolasie, Iain Moody oder Antolin Alcaraz kennen.

Felix Flemmings „Fußballerlebnis des Jahre 2013“ hat dann aber weder Bezug zu den Gunners noch zum SVW. Er berichtet aus der schönsten Stadt der Welt aus einer „etwas überraschenden Perspektive“ wie Felix es selbst in der Begleitmail formulierte:

Als ich gefragt und gebeten wurde über mein Fußballhighlight des Jahres 2013 zu schreiben, musste ich erstmal länger überlegen, was fußballerisch dieses Jahr so besonders gemacht hat. Zumindest ein Highlight war der letzte Spieltag der Premier League am 19. Mai, als Tottenham und Arsenal im Fernduell um den vierten Platz kämpften. Als Arsenal-Fan war der 1:0-Sieg der Gunners in Newcastle eigentlich schön genug, um Pfingsten gut gelaunt zu verbringen. Als viel besser erwies sich aber noch die Fehlinformation, Newcastle hätte in der Nachspielzeit den Ausgleich erzielt. Das twitterte zumindest der bekennende Spurs-Fan Sir Alan Sugar an seine drei Millionen Follower. Rasant verbreitete sich die Falschmeldung, so schnell, dass die Tottenham-Fans im Heimspiel gegen Sunderland völlig austickten. Sei ihnen gegönnt.

Aber darum soll es hier nicht weiter gehen, wenngleich Fußball-Fans im Mittelpunkt der weiteren Zeilen stehen werden. Ich möchte nämlich die Geschichte eines Stadionbesuches mit meiner Mutter und meiner Tante erzählen, seit Jahrzehnten Anhänger von Hannover 96, aber nicht so, wie sich viele den allgemeinen Vereinsanhänger vielleicht vorstellen. Es ist also eine Erzählung über zwei Fans, die stellvertretend für die großartige Heterogenität unter Deutschlands Fußball-Anhängern stehen. Eine Vielfalt, die wir in der Bundesliga unbedingt bewahren, respektieren und verinnerlichen sollten. Ich merke das jedes Mal, wenn ich die beiden begleiten darf.

Wenn ich gefragt werde, woher meine Begeisterung und Interesse für das runde Leder ihren Ursprung haben, sage ich immer: „Das liegt bei uns in der Familie.“ Dann verweise ich auf meine Mutter und Tante, die wiederum immer darauf beharren, dass sie diese „Verrücktheit“ von ihrem Vater, also meinem Großvater, haben, der übrigens – das nur nebenbei bemerkt – immer noch von „Niedersachsenstadion“ spricht. Ich bin nicht der klassische Stadiongänger (ich gehe vielleicht zweimal pro Saison mit der Familie zusammen), schaue Fußball meist zuhause oder in der Kneipe, gerne auch mal in Ruhe alleine, damit mich keiner stört, wenn ich in Ruhe meinen Lieblingsverein, seine Taktik, Stärken und Schwächen analysieren kann.

Meine Mutter und Tante sind viel emotionalere Fans. Das fängt bereits damit an, dass jeder Stadionbesuch nach demselben zeitlichen wie örtlichen Mustern verläuft, nein, verlaufen muss. Das gehört zur Choreografie des Spieltages. Wir treffen uns ungefähr zweieinhalb Stunden vor Anpfiff in der Markthalle in Hannover, so auch am ersten Bundesligapieltag Anfang August gegen den VfL Wolfsburg.

Als erstes wird neben der Bierbestellung abgefragt, wie die Stimmung und das Gefühl für heute seien. Ich könnte dann mit Taktik, Statistik und Bilanz antworten. Meine Mutter und Tante sind direkter insofern, dass sie kundtun, dass Wolfsburg doch eine fürchterliche Mannschaft sei und Stindl und Diouf das heute schon richten werden. Ich nicke und lächele.

Die Markthalle ist vor Heimspielen von Hannover Treffpunkt vieler 96-Fans, die Stimmung ist stets ausgelassen wie angespannt. Von der Markthalle geht es zu Fuß zum Maschsee, direkt vor das Courtyard-Hotel, dem zweiten Stop für ein Bier und eine Bratwurst. Das ist der Zeitpunkt der Bekanntgabe der 96-Aufstellung, was dank Smartphone meine Aufgabe ist. Je nach Entscheidung von Mirko Slomka herrscht dann erstmal Zustimmung oder Verzweiflung bei Mutter und Tante. Ich genieße diese Augenblicke sehr, bin ich als Fan von Arsenal und Werder doch relativ entspannt bei Heimspielen von Hannover 96. Ich freue mich natürlich, wenn die Roten guten Fußball spielen, eigentlich bin ich aber dabei, um Mutter und Tante zu unterstützen und ihnen das Stadionerlebnis halbwegs angenehm zu gestalten. Was noch ein relevanter Faktor während der 90 Minuten wird. Vom Courtyard-Hotel ist es am Maschsee entlang nur noch ein Katzensprung bis zur AWD-Arena. Einlasskontrollen, kurzer Besuch im Fanshop für ein neues Souvenir zur Verschönerung des Büro oder der Küche zuhause, und dann haben wir recht bequem und schnell unsere Plätze auf der Westtribüne im Oberrang eingenommen.

Das Spiel beginnt und spätestens jetzt fängt die Leidenszeit von Mutter und Tante ein. Die sind emotional so involviert, fiebern so mit Hannover 96, dass ich immer wieder erstaunt bin, dass sie die 90 Minuten halbwegs unbeschadet überstehen. Das beginnt damit, dass mit fortschreitendem Spielverlauf nicht mehr auf den Rasen geschaut wird, wenn der Gegner sich dem 96-Strafraum nähert. Es kommt häufiger vor, dass ich beiden erzählen muss, wie gut Zieler gehalten hat. Meine Mutter und Tante sind hypernervös, egal ob es 0:0 nach 10 Minuten oder 2:0 für 96 in der 88. Minute steht. Das Spiel gegen die Wölfe war Sinnbild dafür. 96 ging früh mit 1:0 in Führung, spielte eine halbe Stunde lang mit zwei Mann Überzahl, schaffte aber erst fünf Minuten vor Schluss das erlösende 2:0. Vorher hatte Wolfsburg Chance um Chance. Die haben Mutter und Tante nur durch Erzählung mitbekommen, entweder weil sie wie gesagt nicht hinschauen konnten. Es kommt aber gerne auch mal vor, dass meine Mutter einfach für 10 Minuten ihren Sitzplatz verlässt. Bei meiner Tante zeigt sich die Angespanntheit vor allem in der fehlenden Erinnerung darin, dass sie einen vollen Bierbecher vor sich stehen hat, der sich konsequenterweise schon häufiger in die Reihe vor uns ergossen hat. Ich hole dann meist neues Bier. Ich will den Stadionbesuch ja angenehm gestalten. Das alles kann man jetzt übertrieben finden oder als verständnislos bezeichnen. Aber schließlich zeigt es doch nur, dass wir Fußball-Fans alle mehr oder weniger emotional mit unseren Vereinen mitfiebern. Und wir alle wollen, dass unsere Mannschaft gewinnt.

Die einen fiebern ausschließlich emotional mit. Die anderen betrachten das vielleicht eher sachlich, unterhalten sich zwischendurch noch über mögliche Auswechselungen und deren Implikationen für die taktische Ausrichtung des Teams, sehen eine Doppel-Sechs, die falsche Neun, die flache Acht, kennen die Ausnahmen der Abseitsregel und nehmen im Vergleich zu vielen Fans den Schiedsrichter eher in Schutz, weil sie mal einige Podcasts von Collinas Erben gehört haben. Im Endeffekt nimmt der Fußball aber in unser aller Alltag einen gewichtigen Platz ein. Ein Verein oder auch zwei Klubs sind uns wichtig. Es wird gelitten und gefeiert. Jeder geht damit unterschiedlich um. Was schön ist. Was Fußball-Fans einzigartig macht, weil Fußball einzigartig ist. Solange es nicht übertrieben wird. Es ist dann doch „nur“ Fußball. So wichtig jedes Spiel ist. Es ist nicht das Wichtigste.

Deshalb gefallen mir trotz aller Unwägbarkeiten die Stadionbesuche in Hannover. Klappt es nämlich nicht mit einem Sieg von 96, sagen Mutter und Tante ganz unterkühlt: „Dann eben nächstes Mal wieder.“ Und zwei Wochen später sind die dann wieder im Stadion und rufen in der Halbzeit bei mir an und fragen, wen ich denn am besten bisher bei 96 fand und ob das wirklich ein Elfmeter gewesen sei. Wir sind eher selten einer Meinung. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass beide vielleicht die ein oder andere wichtige Szene mal wieder verpasst oder auch falsch eingeschätzt haben.

Aber sowas wie den Tottenham-Fans würde Mutter und Tante nie passieren.

1 Kommentar » Schreibe einen Kommentar

  1. Geile Story – irgendwie habe ich es nie geschafft weder meine Mutter, noch meine Schwester oder Freundin für den Fussball zu animieren. Bin eher der Typ der mit Freunden ins Stadion geht und am liebsten Samstagmittags.

    Freue mich jeden Tag deine Storys lesen zu dürfen!

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