Tor 10: Gerade machen gegen Nazis

Ich bin bei den Texten hier im Kalender immer wieder begeistert, welche Gedanken sich die Autoren gemacht haben, um einen lesenswerten Text abzuliefern. Hinter Tor 10 darf man den Gedanken des Autoren folgen.

Frodo vom FC St.Pauli Fanzine „Der Übersteiger“ beginnt seine Gedankenreise durch das Fußballjahr 2012 aber mit einer Konversation auf twitter:

„Wir wollen bei Fokus-Fussball.de einen Adventskalender machen. Hast du Lust dafür dein „Fußballerlebnis des Jahres“ aufzuschreiben?“

Ja, so kommt man zu sowas. Auf twitter den falschen Leuten folgen, die einem dadurch Direktnachrichten schreiben können und so unverfängliche Anfragen stellen, wie:

„Wir wollen bei Fokus-Fussball.de einen Adventskalender machen. Hast Du Lust dafür dein „Fußballerlebnis des Jahres“ aufzuschreiben?“

Man fragt dann zwar noch höflich nach Vorgaben wie Inhalt und Länge, weiß aber vorher schon, dass da ein fröhliches „Nee, mach mal wie Du meinst, fühl Dich frei!“ zurück kommt, weil man das selbst nicht anders machen würde.

Und dann sitzt man da. Weihnachten find ich doof, die Adventszeit auch. Und wirklich toll war dieses Fußballjahr ja auch nicht. Okay, am 31.12.2013 wird der FC St.Pauli schon 684 Tage Derbysieger sein, aber sonst? Worüber soll man schreiben? Das 0:1 zuhause gegen den VfR Aalen?

Mitten in diese grummelige Vorweihnachtszeit, als man sich vor lauter „Last Christmas“-Gedudel kaum noch in den Supermarkt traut, draußen kalter Nieselregen einsetzt und die Schiedsrichter noch unfairer mit dem eigenen Verein umgehen, als man das seit 102 Jahren ja eh schon immer fühlt, rückt dann der Abgabetermin immer näher, noch immer steht kein sinnvolles Thema parat.

Ja klar, das übliche halt, was aber postwendend vom Teufelchen rechts auf der Schulter mit einem vorweihnachtlichen „Is‘ eh alles blöd!“-Grummeln beiseite gewischt wird.

Die irischen Fans bei der EM? Blödsinn, wer regelmäßig mit Celtic unterwegs ist, war wohl von „Fields of Athenrye“ kaum überrascht.

Zlatan Ibrahimovic mit seinem Fallrückzieher in einem belanglosen Testspiel?

Quatsch, den hat man selbst in der Vorwoche auf Asche und mit Jeans (und ohne neonfarbene Schuhe) genauso reingebufft, aus noch größerer Entfernung, nur eben ohne Fernsehkamera. Und ohne, dass der vorher noch aufgeditscht war, so!

Die DFL mit ihrem duften Sicherheitskonzept, die endlich dafür sorgt, dass auch Frauen und Kinder sich in einigen Jahren eventuell mal in deutsche Fußballstadien trauen… nee, merkste selbst.

Die unfassbaren Gewalt-Exzesse beim Relegations-Spiel in Düsseldorf. Moment, ich muss noch mal schnell die Anzahl der Toten googlen, die bei der anschließenden Diskussionen bei Kerner und Co. mit Fachpersonal wie Marijke Amado entsetzt den Kopf in den Flachbildschirm gerammt haben.

Die Love-Story von Oliver Kahn und Katrin Müller-Hohenstein, denen man von Herzen viel Spaß und eine lange gemeinsame Zeit auf Usedom wünschte, dann aber doch feststellen musste, dass sie eine Rückfahrkarte nach der EM hatten.

Ach nee, alles scheiße. Okay, also nochmal von ganz vorne in diesem schicken Jahr 2012. Oh, warte mal… ja, da war was, was sich als Thema eignet. Eigentlich ein unfassbares Geschehen, welches wirklich im Nachhinein exemplarisch für dieses Jahr in Fußball-Deutschland stehen
könnte, welches aber nach einiger Zeit dann doch so etwas wie einen Regenbogen und ein Leuchten im Dunkeln darstellen könnte:

Der Schweinske-Cup 2012, ein Hallenturnier in Hamburg-Alsterdorf.

Überregional hatte das Turnier nie für viel Aufsehen sorgen können, in den letzten Jahren war nicht einmal mehr der Verein aus Stellingen erschienen. So hatte es sich immer mehr zum Turnier der singenden Fanszene des FC St.Pauli entwickelt, insbesondere natürlich für USP.

Das Turnier war alljährlich ein echtes Highlight geworden, an zwei Tagen feierte man die Mannschaft, aber in erster Linie natürlich auch sich selbst. Denn akustische Gegenwehr gab es nicht und die Lieder machten in der Halle eben noch mehr Spaß. Und wer sich im Stadion von jenem klischeebehafteten „Dauerlalala“ gestört fühlte, blieb dem Hallenzauber einfach fern, klassische Win/Win-Situation.

Es lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass die Fans des Vereins das Turnier (welches von einem verdienstvollen Hamburger Geschäftsmann, Horst Peterson, organisiert wurde, welcher über die Jahre ebenfalls ein freundschaftliches Verhältnis zu USP aufbaute) zu ihrem gemacht hatten. Ohne sie wäre es längst zu einem reinen Amateur-Fußballturnier geworden, da dann auch der FC St.Pauli irgendwann die Lust daran verloren hätte.

Doch dieses Jahr, am 6.Januar 2012, änderte sich alles.

Traditionell sammelte sich USP und Umfeld an der U-Bahn Station in der Nähe der Halle, um in einem gemeinsamen Marsch mit Gesängen zur Halle zu ziehen. In den vergangenen Jahren war es dabei immer mal wieder zur Verwendung pyrotechnischer Gegenstände außerhalb von Menschenmassen gekommen, weit harmloser und ungefährlicher als beispielsweise wenige Tage vorher (Silvester) an den Hamburger Landungsbrücken oder der Binnenalster geschehen, aber eben doch Grund genug für eine stark Präsenz zeigende Polizei.

In der Halle angekommen kam es während des ersten St.Pauli-Spiels zu einem Angriff einer Gruppe Lübecker, die vielleicht mit dem ebenfalls anwesenden VfB sympathisierten, vielleicht aber auch einfach nur mal ungehemmt ihre rechte Gesinnung ausleben wollten. Und dank eines fehlenden Konzepts der Polizei eben dies auch konnten. Denn die hatte, statt die ca. 30köpfige Gruppe im Auge zu behalten, die etwa 2.000 St.Paulianer eingekesselt, die gerade euphorisch ihre Spieler besangen. Dies nutzte besagte Gruppe dann, um durch die Halle zu laufen und nach dem Überrennen von Familienvätern und Kindern einen Bannerklau zu versuchen.

Was folgte, ging durch die Medien. Fans, die den Job der überforderten (wenn auch zahlreich anwesenden) Polizei übernahmen und den Diebstahl sowie die Körperverletzung verhindern wollten, deren Notwehr dann von den Kameras eingefangen wurde und als große Randale über
die deutschlandweiten Sendeanstalten verbreitet wurde. Ein Anfang im Lieblingsthema des Boulevards für 2012 war gefunden, die häßliche Fratze der Fußballgewalt.

War zwar alles anders als in großen Lettern am nächsten Tag zu lesen war, aber das interessiert ja kaum.

Und nur fürs Protokoll: Nein, ich schreie hier nicht nach der Hilfe der Polizei. Nur wenn sie denn schon in solcher Masse anwesend ist, so soll sie doch bitte auch die Gewalt verhindern, und nicht noch begünstigen und verschärfen.

Bevor ich mich in Details verliere: Man kann beim Magischen FC-Blog, beim Lichterkarussell, auf Publikative.org und natürlich auch bei uns selbst nachlesen, wie es wirklich war, dies würde hier den Rahmen etwas sprengen.

Warum also ist dies für mich das „Fußballereignis des Jahres 2012“?

Ist es gar nicht, denn es gab für mich gleich zwei Ereignisse des Jahres, die allerdings erst durch eben diese unerfreulichen Vorfälle möglich wurden.

  • Die Pressemitteilung des FC St.Pauli, in der sich vom Verein erstmals (!) in einem solchen Thema deutlich und öffentlich hinter die eigenen Fans gestellt wurde. (Dies war in der Vergangenheit, siehe Angriff auf das Jolly Roger 2009, nicht immer so.) Und in der Mitteilung wurde nicht versucht, die Schuld zwischen Fans und Polizei aufzuteilen und zu relativieren, sondern die Schuld an der Eskalation wurde deutlich (und zurecht) der Polizei zugeordnet, was bei Ereignis 2 dann ja auch nochmal von unabhängiger Seite bestätigt wurde. Und natürlich das Zitat des Jahres vom Sicherheitschef des Vereins, Sven Brux:

“Man muss es mal so deutlich sagen und bei der Realität bleiben: Wir werden landauf, landab dafür gerühmt, dass wir gegen Nazis stehen. Dann muss man sich auch mal gerademachen! Wenn einer Nazi-Sprüche macht, muss ihm klar sein, dass ihm das auch körperlich beim FC St.Pauli nicht guttun wird.“

Danke, Sven!

  • 2. Eine weitere Pressekonferenz, im Mai 2012, als das Team um Thomas Feltes, von der Ruhr-Universität Bochum, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft, ihre Untersuchungsergebnisse veröffentlichten, in der es eben um besagte Schuldfrage an jenem Abend ging.

Die zwischendurch geäußerten Blendfeuer der Hamburger Polizei wurden hier von unabhängiger Seite gelöscht und entlarvt, vielleicht auch der Auftakt zu einer differenzierteren Betrachtung der kreativen Wahrheitsinterpretation der Polizei in Fußballzusammenhängen… zumindest dachte ich das damals noch und so ganz mag ich die Hoffnung auch noch nicht aufgeben.

In diesem Sinne: Ich fühl mich sicher!

5 Kommentare » Schreibe einen Kommentar

  1. Ich habe das damals nicht im Detail verfolgt, nur abgespeichert, dass die Polizei mindestens völlig überfordert war. Zwei Nachfragen. Wenn es keine Nazis gewesen wären, sondern ganz normale Bannerdiebe hätte es also keine Gewalt in diesem Ausmaß gegeben? Und für welche außer Nazisprüche bekommt man bei St. Pauli denn noch so auf die Fresse bzw. wird es gemäß offizieller Androhung einem körperlich nicht gut tuen?

  2. Beide Fragen sind natürlich etwas theoretisch, aber ich versuche es mal:
    Zu Frage 1: Es wäre (imho) zumindest nicht in dem Maße eskaliert. Wer einfach „nur so“ Banner klaut, wird sicherlich auch nicht freundlich durchgewunken und mit Blumen beworfen. Bei Leuten mit Hitlergruß und entsprechenden verbalen Begleitäußerungen ist die Toleranzschwelle unsererseits aber bekanntlich doch etwas geringer… und siehe Sven Brux: Das ist auch ganz gut so.
    Zu Frage 2: Worauf willst Du denn damit genau hinaus?
    Selbstredend gibt es für alle „Nazisprüche“ ggfs. „auf die Fresse“, und auch das zurecht. Wann es in diese Kategorie fällt, ist sicher Situationsabhängig, aber das tragen von (z.B.) ThorSteinar – Klamotten ist sicherlich im Umfeld des Millerntors nicht ganz risikofrei, um es mal so zu formulieren.

  3. Ich bin halt überrascht, dass von Vereinsseite so unverholen Selbstjustiz gerechtfertigt bzw. sogar für Wiederholungsfälle angekündigt wird. Und wollte wissen, was bei St. Pauli noch so alles im offiziellen „auf die Fresse“-Katalog steht. Gilt das auch für Schwulensprüche, Judenwitze usw.? Gibt es da eine Kommission oder einen Fanausschuss wo beschlossen wird, wer ohne schlechtes Gewissen zu haben verprügelt werden darf? Oder sollte man das nur im engen Zusammenhang mit den Ereignissen beim Schweinske-Cup sehen?

  4. Wenn Du die juristische Sichtweise beschreiten möchtest: Dies war selbstredend keine Selbstjustiz, sondern Notwehr, da der Straftatbestand des Diebstahls erfüllt war.
    Darüberhinaus hat nicht jeder Vereinsoffizielle laut Beifall geklatscht bei Svens Worten und natürlich gab es danach eine ziemliche Diskussion darum.

    Von der moralischen / Fanherz-Sicht auf das Ganze war es für mich aber eben einer jener Tage, an denen ich wusste, warum ich Fan dieses Vereins bin, und nicht eines anderen… und daher mein persönliches Fußballereignis des Jahres.

  5. Pingback: Jahresrückblick 2012 | Übersteiger-Blog

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