Am Dienstag konnte sich der FC Schalke 04 als Gruppenerster für das Achtelfinale der Champions League qualifizieren. Es sieht so aus als ob die Schalker an ihre internationale Erfolgsserie aus der vergangenen Saison anknüpfen können, die erst im Viertelfinale gegen den späteren Finalisten ein Ende fand.
Doch nicht (nur) der Erfolg an sich, sondern das Drumherum einer Europapokalreise mit dem Lieblingsverein ist das was die meisten Fans dazu treibt unter Woche in ferne Länder zu reisen.
Und weil heute Europa League Spieltag ist und wieder tausende Fans ihren Lieblingsvereinen nach Spanien oder in die Türkei nachreisen, um Europapokalflair zu genießen, passt der Text von Matthias in der Weide, der als Schalkefan zu den kreativsten Köpfen der Blogosphäre gehört, ganz hervorragend hinter Tor Nummer 6.
Jetzt hat es mich doch erwischt. Mit 38 Jahren fühle ich mich zum ersten Mal richtig alt. Dabei hatte ich alles dafür getan, bei naturgemäß schwindenden körperlichen Fähigkeiten zumindest im Geiste mit der in den späten 1990ern geborenen Generation mitzuhalten. Doch dann wurde ich mit dem „Jugendwort des Jahres 2012“ konfrontiert, das mir überhaupt nichts sagen wollte: Yolo! Seitdem befürchte ich täglich, dass mir im Bus ein Sitzplatz angeboten wird.
Wie schafft es „Yolo“ in einen Beitrag zu meinem Fußball-Moment des Jahres? Als ich darüber sinnierte, wie weit entfernt ich schon von den jungen Leuten bin, ging ich die Begriffe durch, die ich bislang für Jugendsprache hielt. „Respekt“ ist so ein Wort, das sich ob seiner inflationären Verwendung bei sich anbahnenden Streitigkeiten unter Halbstarken längst aus meinem aktiven Sprachschatz in die Wortfülle der Jugend verabschiedet hatte. Ungefähr so: „Alter, hast kein Respekt?“, in der Regel erwidert durch ein überzeugendes „Deine Mudda!“
Das Wort „Respekt“ leitet sich aus dem lateinischen „respectus“ ab und bedeutet „Zurückschauen“, in der erweiterten Definition aber auch „Berücksichtigten“. Daraus kann man „Wertschätzung“ ableiten, wobei „Wertschätzung“ nicht als „nachahmenswert“ missverstanden werden sollte. Ich kann Menschen wertschätzen ohne mit ihnen tauschen zu wollen. Aber ich respektiere, dass sie so sind, wie sie sind, und fühle mich durch ihr Handeln nicht angegriffen. Ein schönes Wort.
„Respect“ ist ein Slogan, mit dem die UEFA seit Jahren Kampagnen fährt. Es taucht unter anderem auf Werbebanden und Trikotärmel-Flocks auf. Trotzdem wirkt es im Fußball – sind wir mal ehrlich – oft deplatziert. Wenn sich Spieler gegenseitig die mit „Respect“ beflockten Arme in das Gesicht rammen, wenn Assistenten von einer wutschnaubenden Spielertraube umringt sind, wenn der vierte Offizielle auf den Namen Bibiana Steinhaus hören muss, um vom Trainer eines Reviernachbarn nicht mit Haut und Haaren gefressen zu werden, dann ist da wenig Respekt zu spüren. Und wenn die Fans sich auf den Rängen gegenseitig Gräueltaten zubrüllen, die erst beendet sein sollen, wenn die Grabstätte des anderen geschändet worden ist, dann hat das mit Respekt nichts mehr zu tun.
Umso schöner war es, als ich Anfang April im baskischen Norden Spaniens Erlebender einer kleinen Begebenheit wurde, in der Respekt mehr war, als ein abgenutztes Wort aus einer Image-Kampagne. Schalke trat beim Athletic Club aus Bilbao zum Viertelfinal-Rückspiel in der Europa-League an und ich durfte drei Tage lang hautnah dabei sein. Über ein Gewinnspiel war ich in den Mannschaftsflieger und ins Mannschaftshotel gespült worden. Da ließ es sich sogar gut ertragen, dass die Chancen auf ein Weiterkommen nach der 2:4-Hinspielpleite eher theoretischer Natur waren.
In diesen Tagen befand sich Bilbao im Ausnahmezustand.
Nicht nur das winkende Halbfinale der Europa-League versetzte das Baskenland in freudige Erregung. Vor allem das Erreichen des Finales im Copa des Rey mit dem Endspiel gegen den FC Barcelona sorgte dafür, dass die Stadt im April 2012 den Fußball lebte. An jedem Gebäude prangte mindestens eine Athletic-Flagge. Viele Häuser in der Innenstadt waren sogar derart in rot und weiß gehüllt, als habe Christo eine Wette verloren und den Einsatz einlösen müssen.
Am Spieltag selbst waren die Straßen voll mit Menschen in gestreiften Trikots. Jung und alt, vom Neugeborenen bis zur gebrechlichen Seniorin mit mehr als 90 baskischen Regenfrühlingen auf dem krummen Buckel, tummelten sich in der Altstadt und rund um das in die Jahre gekommene Stadion San Mamés. Dazwischen ein paar Hundert Schalker.
Man kam ins Gespräch, tauschte Schals, Wimpel und Pins und als man nichts mehr zum Tauschen hatte, ersetzten Umarmungen die materiellen Güter. Beseelt von so viel Gastlichkeit erklommen wir die Stufen des Stadions und fanden uns in einem gemischten Block der besseren Kategorie wieder, in dem Basken und Schalker gemeinsam das Spiel verfolgten. Jeder auf seine Weise, jeder frenetisch und – nachdem Schalke mit 1:0 in Führung gegangen war – auch mit dem sakralen Ernst, der Fußballfans zu Eigen ist. Trotz zwischenzeitlicher Hoffnung endete das Spiel mit 2:2. Schalke hatte sich anständig aus dem Wettbewerb verabschiedet und war an einem Team gescheitert, dass das Momentum auf seiner Seite hatte. Damit konnte ich leben und sog die letzten Momente einer tollen Auswärtstour im Stadion ein.
Als wir eine halbe Stunde nach dem Spielende von den Ordnern angewiesen wurden, San Mamés zu verlassen und uns die Aussicht auf einen halbstündigen verregneten Fußmarsch zurück zum Hotel, hindurch durch eine siegestrunkene Fanmasse der Gastgeber, nicht wirklich erwärmte, geschah es. Auf einem der engen Vorplätze des Stadions, offenbar am Spielerausgang, hatte sich eine größere Gruppe Athletic-Fans versammelt und wartete laut singend auf ihre Helden. Wir Schalker, eine Gruppe von vielleicht 40 Personen aus dem „besseren“ Block, mussten die wogende Masse durchqueren. Trotz aller Freundlichkeit des Tages eine durchaus heikle Situation. Feiernde Sieger hier, leicht frustrierte Verlierer da: brenzlig. Als uns dann die ersten Bilbao-Anhänger erspähten, hektisch mit dem Finger auf unsere Gruppe deuteten und auch die Nebenstehenden auf unser kleines Häuflein aufmerksam machten, brach sich eine gewisse Nervosität bahn.
Die vor Sekunden noch in ohrenbetäubender Lautstärke feiernde Menschenmasse verstummte, teilte sich und bildete eine schmale Gasse. Es war für einen Moment gespenstisch still und wir fühlten, wie viele Hundert Augenpaare in in diesem kurzen Moment, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte, auf uns ruhten.
Kaum hatte der erste Mutige seinen Fuß in die angebotene Gasse gesetzt, ertönten vereinzelte Klatschgeräusche. Mit jedem blau und weiß gekleidetem Fan, der sich auf den Weg traute, wurde der Applaus lauter. Nur Sekunden später klatschte der gesamte Vorplatz. Nicht hämisch, nicht untermalt von verzerrten Gesichtern die ein „Ätsch, wir haben es euch gezeigt!“ transportieren sollen, sondern aufrichtig und ernsthaft – und mit einem sanften Lächeln im Antlitz. Es war ein Applaus, der all‘ die großartigen Eindrücke dieser Tage in sich vereinte. Es war in dieser Form der größtmögliche Ausdruck von Respekt, den eine Fangruppe einer anderen, mit der man vor ein paar Minuten noch im sportlichen Wettstreit stand, erbieten kann. Und wir? Wir konnten nicht anders, als auf dem Weg durch die Gasse zurück zu applaudieren, Schultern zu klopfen, Hände zu schütteln und zu staunen.
Keiner der auf dem Platz versammelten Bilbao-Fans wäre aus übertriebener Gastfreundlichkeit heraus bereit gewesen, das Weiterkommen seiner eigenen Mannschaft nachträglich zu bedauern. Sie feierten ihren Club und das hatten sie sich auch verdient. Doch bei aller Freude vergaßen sie nicht, dass ihr Sieg auch eine Niederlage für uns bedeutete. Mit ihrem ehrlichen Applaus brachten sie es auf den Punkt. Es gibt ihn doch, den Respekt unter Fußballfans. Manchmal muss man lange nach ihm suchen und mehrere tausend Kilometer in Bussen und Flugzeugen zurücklegen. Aber in Bilbao habe ich Respekt erlebt und diesen gerne zurückgegeben.
Yolo, Alter!