Es gibt Twitterati, die melden sich aus den verschiedensten Stadien. Aus Nöttingen, Heerenveen oder Wolfsburg, aus Rostock, Bern, und Saarbrücken, aus Cottbus, Karlsruhe und Ingolstadt.
Wenn man das mit einigem Neid verfolgt und liest, dass das nicht beruflich motiviert, sondern gelebter Fußballverrücktheit geschuldet ist, dann ist es um so spannender zu erfahren welches das Fußballerlebnis des Jahres einer solch umtriebigen Fußballreisenden ist.
Die Freude ist deshalb groß, dass Sonja Riegel durch gesammelte Eintrittskarten geblättert hat, um von ihrem Fußballerlebnis des Jahres 2012 für den „Fokus Fussball Adventskalender“ zu berichten.
Mit Auslosungen zu EM- oder WM-Qualifikationen ist das ja immer so eine Sache. Man nimmt sie kaum wahr und muss sich ein paar lasche Sätze darüber anhören, dass „Österreich größer geworden“ ist oder auch die „Färöer kein Fußballzwerg mehr“ sind. Gähn. Aber die Auslosung für die Quali zur WM 2014 in Brasilien hielt wirklich etwas für mich bereit. Vermutlich durch eine seltsame Lücke im Raum-Zeit-Kontinuum hatte die FIFA Norwegen als Gruppenkopf gesetzt – und ihnen die Schweiz zugelost. Am 12. Oktober 2012 sollte das Spiel in Bern stattfinden. Tag direkt im Kalender angestrichen. Und immer wieder das Internet gewälzt in der Hoffnung, irgendwie an Karten zu kommen.
Am schnellsten sind die Norweger dran: Mitte August gibt es auf der Seite des Fußballverbands Karten für den Gästeblock. Das trifft sich gut, denke ich. Heia Norge. Aber der Ticketlink lässt mich enttäuscht zurück, er endet immer wieder in einer Fehlermeldung. Panische Mail an den Verband, eine weitere an den Ticketservice. Als keine Antworten kommen, ein neuer Versuch: Ich gebe die Adresse eines norwegischen Bekannten ein – und siehe da, ich komme bis zur Bestellseite, kann dort wieder meine Adresse einfügen und abschicken. Also quasi mal eben das Internet besiegt. „Wir verkaufen keine Karten ins Ausland, sorry“, sagt die Mail vom Verband, die mich einige Tage später erreicht. Der Ticketservice teilt mir mit, dass ich die Karten vor dem Spiel am Stadion abholen könne. Einige Wochen später liegen sie in meinem Briefkasten. Verwirrend, das alles, aber egal, Karten in der Hand. Von da kommen sie zunächst an meine Pinnwand, direkt neben die Schweizer Autobahnvignette. Da hängen sie also. Bis zum 12. Oktober.
Am frühen Nachmittag geht es los. In Karlsruhe sammele ich Anne-Kathrin ein und weiter gehts nach Bern. Einige Stunden sind wir unterwegs, der angekündigte Regen lässt uns zum Glück in Frieden. Dafür verwöhnt uns das Schweizer Radio: Zunächst mit einem Song der local heroes von „We Invented Paris“ – sowas Schönes läuft bei uns im von Unheiligen und Silbermonden verseuchten Radio ja nicht – und schließlich mit einem Interview mit Mini Jakobsen, ehemaliger Spieler der Young Boys Bern, der inzwischen im norwegischen TV kommentiert. Norwegen werde defensiv aufgestellt und mit einem Punkt sicher zufrieden sein, so seine Prognose. Ich befürchte ähnliches – kein schönes Spiel, höchstens eine Abwehrschlacht.
In Bern angekommen staut sich der Verkehr an der Ausfahrt. Hektische Ordner winken uns am Parkplatz vorbei und wir stellen kurz darauf fest, dass wir ihnen einfach nur durchs Fußballfan-Raster gefallen sind. Mist. Also umdrehen, wieder Stau, selbst auf dem Parkplatz will man uns wegwinken. Zwei Frauen aus Deutschland, die wollen doch ganz sicher woanders hin. Wollen sie nicht. Anne-Kathrin kommt mit einer Einweiserin ins Gespräch, sie lässt uns für zehn Franken parken. Ihre Mine verfinstert sich, als wir unseren Norwegen-Schal anziehen. „Jahaaa, wir sind nämlich wegen Norwegen hier“, flötet Anne-Kathrin ihr im Vorbeigehen fröhlich zu. Unter ihren kritischen Blicken verdrücken wir uns lieber schnell.
Der Weg vom Parkplatz zum Stadion ist weit, führt über Kreuzungen, Felder und Autobahnbrücken. Schließlich kommen wir auf eine große Wiese. Auf ihr steht ein großes Zelt, drumherum Wohnwagen. Freunde, der Zirkus ist in der Stadt. Im Hintergrund taucht das Stade de Suisse auf.
Hinter der Haupttribüne ist eine regelrechte Partymeile mit Fressbuden und Saufständen aufgebaut. Gute Laune überall. Wir schleichen uns mit unseren Norwegen-Schals unauffällig vorbei in Richtung Eingang des Gästeblocks. Dieser ist noch sehr leer, als wir unsere Plätze einnehmen. Noch gut eine Stunde wird es bis zum Anpfiff dauern. In dieser Zeit müssen wir die betont fröhlichen Ansagen der Stadionsprecher erleiden, die dazu auffordern, die ausgeteilten „Fanklatschen“ zu benutzen.
„Fanklatschen“, ein schönes Wort, denke ich. Wobei es irritiert, dass sie das „Fan“ in „Fanklatsche“ aussprechen wie das englisch Wort „Fun“. „Funklatsche“? Nein, das kann nun wirklich nicht sein. Ich muss an eine Bekannte denken, die sich mal über die Zweisprachigkeit von „Backfactory“ aufregte: „Ich mein, wenn man das komplett Englisch ausspricht, dann heißt das doch Arschfabrik!“ Was solls, die Klatschpappeninvasion, dieses liebgewonnene Ritual, ist also auch in der Schweiz angekommen. Unsere Ablenkungsversuche:
1. Wir lesen die Stadionzeitung. Einige Artikel sind auf Deutsch, andere auf Französisch. Ich ärgere mich, dass Frau Kleine meinen Französischkurs damals mit allem gequält hat, nur nicht mit Fußballvokabeln. Die wären jetzt Gold wert.
2. Wir gehen austreten. Das ist deshalb ein Abenteuer, weil der Gästeblock zwar fein säuberlich vom Rest des Stadions abgetrennt ist, die Toiletten hinter dem Tor aber von allen Fangruppen genutzt werden. Aber: Wir kommen in Frieden und die Schweizerinnen nehmen ohnehin kaum Notiz von uns.
3. Wir lassen uns von Norwegern vollquatschen. „Ich verstehe kein Wort von dem, was der sagt. Ich glaube, der ist betrunken“, sagt Anne-Kathrin, zu mir rüber gelehnt, während der ältere Mann neben ihr weiter auf sie einredet. Schließlich klopft er ihr auf den Rücken, lächelt und geht. Sie bleibt mit einem imaginären Fragezeichen auf der Stirn zurück.
Kurz vor Anpfiff ist der Gästeblock dann voll, genau wie der Rest des Stadions. Und wie die meisten Kerle um uns herum. Einige Norweger haben vor uns riesengroße Fahnen am Zaun platziert und sich dazu entschieden, den Block in einem Stehblock umzuwandeln. Das sorgt für Missmut bei einigen anderen, es entwickeln sich heftige norwegische Wortgefechte. Die Nörgler verziehen sich schließlich weiter nach oben, wir bleiben auf unseren Plätzen direkt hinter dem Trompeter mit dem Wikingerhelm stehen. Eine Frau vor uns teilt ein paar norwegische Fahnen aus, wir nehmen sie dankbar an. Wenigstens etwas zum Festhalten.
Kurz darauf geht es los. Die Norweger haben einige personelle Probleme, unter anderem ist Moa Abdellaoue von Hannover 96 verletzt und Vadim Demidov von Eintracht Frankfurt fehlt die Spielpraxis, er ist nicht einmal im Kader. Im Sturm spielt Alexander Söderlund. Jener Blondschopf, über den Wikipedia Dinge zu sagen weiß wie „Im August 2008 folgte eine Ausleihe an den belgischen Zweitligisten UR Namur. Beim Tabellenletzten Namur absolvierte er daraufhin 3 Spiele ohne Torerfolg, ehe er nach 3 Monaten wieder zurück nach Italien geholt wurde. Es folgten zwei weitere Monate ohne Profieinsatz, ehe man ihn abermals, diesmal nach Bulgarien, an den Erstligisten Botev Plovdiv auslieh. Die Station Plovdiv verlief noch enttäuschender. Søderlund kam in drei Monaten zu keinem Einsatz und wurde wieder zurückgeschickt.“ Zum Glück erwischt er einen richtig guten Tag, ist in der Spitze immer anspielbereit und kämpft um jeden Ball. Überhaupt wird schnell klar, dass wir hier nicht das erwartet einseitige Spiel sehen. Im Gegenteil: Norwegen spielt mit Schwung nach vorn und hat die ersten guten Chancen des Spiels. Diego Benaglio, jener Torhüter, der mit dem VfL Wolfsburg zu dieser Zeit auf dem letzten Platz der Bundesliga steht, fischt einen Ball nach dem anderen raus. Verdammt. Die Schweizer tun sich unerwartet schwer, Brede Hangeland von Fulham und Vegard Forren von Molde bilden ein starkes Innenverteidiger-Duo. Den Eidgenossen fällt nichts anderes ein, als sich ständig beim Schiedsrichter zu beschweren. Eindruck aus dem Norwegen-Block: Tatsächlich bekommen die Schweizer weniger Freistöße im Mittelfeld zugesprochen, aber Norwegen zieht mit seiner Ballsicherheit auch die klareren Fouls. Und Xerdan Shaqiri vom FC Bayern wird sich einige Wochen später in der Bundesliga ohnehin als Schwalbenkönig outen.
Mit 0:0 geht es in die Pause. Anne-Kathrin geht Getränke kaufen, währenddessen gesellt sich unser betrunkener Freund wieder zu mir. „Wir holen hier heute was“, sagt er begeistert. Um mir schließlich die Frage aller Fragen zu stellen: „Wieso fährst du denn aus Deutschland bis in die Schweiz, um dir ein Spiel von Norwegen anzusehen?“ – „Kennst du Eintracht Frankfurt?“, frage ich zurück. „Das ist mein Verein. Und Jan-Aage Fjörtoft war damals mein Lieblingsspieler, deshalb bin ich bis heute am norwegischen Fußball hängengeblieben.“ Er strahlt. Wo genau kommt er denn her? „Aus Stavanger.“ – „Oh, da habe ich 2009 mal ein Spiel von Viking gesehen.“ – „Ehrlich? Ich mag dich!“ Er erzählt mir schließlich ausführlich von der Fußballreise in die Schweiz – „alles so billig hier, toll“ – und den weiteren Plänen. „Morgen fahren wir nach Zürich!“ – „Und was macht ihr da? Die Stadt angucken?“ – „Nein! Trinken natürlich!“ Okay, war auch eine blöde Frage. Er beendet die nette Halbzeitunterhaltung mit der nicht gerade nüchternen Feststellung: „Hey, weißt du was? Einer von uns ist total betrunken und der andere nicht!“
Schließlich leiden wir wieder mit den Jungs von Trainer-Legende Egil „Drillo“ Olsen. Die zweite Halbzeit verläuft ähnlich ausgeglichen wie die erste, Norwegen kann die Schweiz weiterhin gut vom Tor weghalten. Zwischendrin die verzweifelte norwegische Durchsage im Stadion, die Fans im Gästeblock sollen sich doch bitte hinsetzen, damit alle etwas sehen. Wir machen das brav. Eine Minute später trompetet der Trompeter, der Block brüllt in Landessprache kollektiv „Steht auf für das Vaterland“ – und schon stehen wir wieder alle. Partyblock! Als wir uns schon langsam mit dem 0:0 anfreunden, passiert es dann doch: Die Schweiz schießt zehn Minuten vor Schluss das 1:0. Unverdient, aber wen interessiert das schon? Die Spieler in Rot laufen zur Eckfahne direkt vor unserer Nase, um dort ausführlich zu jubeln. Wir schauen ihnen machtlos zu. Ich küre das spontan zu einem der schlimmsten Gefühle, die es gibt. Ein rostiger Nagel, mit Schwung durch die Kniescheibe gerammt, wäre mit Sicherheit nicht so schmerzhaft wie dieser Moment, in dem wir unter dem Klatschpappengetöse einsehen müssen, dass das wohl heute doch nichts wird mit der Auswärtsüberraschung.
Der Gästeblock erwacht aber pünktlich zum Wiederanpfiff aus seiner Starre, die Mannschaft zum Glück auch: Sofort holen sie eine Ecke heraus. Tarik Elyounoussi bringt sie, Brede Hangeland, zuvor der Turm in der Abwehrschlacht, steigt hoch und wuchtet das Ding ins Tor. Die Norweger im Block eskalieren und wir tun es ihnen gleich: Alles fällt durcheinander, ich falle von einem Arm in den nächsten – erst Anne-Kathrin, dann mein betrunkener Neu-Kumpel. Alles wieder gut. Ach was: Alles wunderbar! In den letzten Minuten drängen die Norweger übermütig auf das zweite Tor. Dann die 90 Minute: Aus dem Hintergrund müsste Elyounoussi schießen. Elyounoussi schießt. Pfosten. Der perfekte Schlusspunkt bleibt uns und unseren dennoch freudetrunkenen Freunden also leider verwehrt. Den Punkt feiern wir trotzdem wie einen Sieg.
Auf der Leinwand sehen wir noch, wie ein völlig angepisster Shaqiri sich einem Interview stellen und sein Trikot für ein Gewinnspiel hergeben muss. Einen Tag später machen Berichte und Videos die Runde, wie Ottmar Hitzfeld – der Gentleman – den Stinkefinger gut sichtbar in Richtung Schiedsrichter zeigt. Und nicht, wie er danach behauptet, auf Kniehöhe gegen sich selbst. Das zeigt vor allem: Mit so starken Norwegern hatten sie hier nicht gerechnet.
Einige Tage später, nach dem nächsten Quali-Sieg, wird Norwegens John Arne Riise auf seiner Facebook-Seite posten: „It is all in our hands now. If we win all our matches, then we will go to Brazil.” Norwegen zum ersten Mal seit 14 Jahren bei einem großen Turnier, das wäre wirklich eine große Sache. Und wenn es denn soweit kommen sollte, haben wir in der Schweiz ganz sicher einen Meilenstein auf dem Weg dorthin gesehen. Heia Norge.