Die meisten Fußballfans, die mal mit ihrem Lieblingsverein auf Auswärtstour im Europapokal waren, schwärmen von ihren Touren. Dabei ist das Spiel des internationalen Wettbewerbs zwar der Grund der Reise, nicht aber unbedingt das Highlight.
Wenn man dann nicht dabei sein kann und von den Erlebnissen anderer Fans liest, dann gibt man alles, um wenigstens beim Rückspiel dabei zu sein. Vor allem wenn feierwütige und sangesfreudige Iren zum Auswärtsspiel nach Hannover kommen.
Ansgar Löcke, Student und 96-Fan aus Berlin, durfte das genießen und erzählt hinter Tor 9 im „Fokus Fussball Adventskalender“ von einem Fußballspiel, das zur Nebensache wurde.
Anfang August, ganz Deutschland ist in der Sommerpause. Die Europameisterschaft ist verarbeitet – nun ja, teilweise. Der Großteil der Bundesligisten hat noch trainingsfrei, da schickt sich ein Verein aus Niedersachsen an, das Abenteuer Europa der Vorsaison zu wiederholen. Das Erreichen des Europa-League-Viertelfinales hat die Fans begeistert, das hat Erwartungen geweckt. In der Liga ging am Ende die Puste aus, also muss es über die Qualifikation in die Gruppenphase gehen.
Das bedeutet im schlimmsten Fall: Auswärtsreise in die hinterste Ecke Osteuropas oder Vorderasiens. Diese Entfernung, gepaart mit noch keiner vorhandenen Form der Mannschaft und unebenen Plätzen in der Pampa, kann ein schnelles und unrühmliches Aus bedeuten. (Einfach mal die Mainzer fragen…) Dementsprechend nervös wird die Auslosung bereits Ende Juli verfolgt, mögliche Gegner sind ein Vertreter aus Bosnien-Herzegowina (kommt dem Schreckensmodell recht nahe) und die St. Patricks Athletic aus Irland. Sofort liegen die Sympathien bei St. Pats.
Viele Fans buchen auf Verdacht schon Flugtickets nach Irland, hoffen einfach auf den Erfolg der Iren. Als sich diese tatsächlich im Rückspiel nach Verlängerung durchsetzen, ist nicht nur bei Fußballfans in Dublin der Jubel riesengroß. Auch RyanAir reibt sich die Hände. Last-Minute-Flüge bringen Geld. Dennoch finden viele, sehr viele 96-Fans kurzfristig bezahlbare Flüge und Unterkunft, um den Verein auf der ersten Stufe zu unterstützen. Ich leider nicht. Mein Budget ist überschritten, kann an dieser großartigen Fahrt nicht teilnehmen. (Etwas anderes in Zeiten von Guttenberg und Schavan zu behaupten wäre auch grob fahrlässig bis idiotisch.) So sehe ich im Fernsehen, wie Andreasen sein Tor schießt und man sich dann über die Zeit zittert, dabei aber das Toreschießen zu wichtigen Zeiten nicht vergisst. 3:0 auswärts gegen die Iren. Die Sache ist durch. Warum also noch zum Rückspiel? Oder überhaupt?
Wegen des Vereins, natürlich. Man will seine Mannschaft sehen. Als ein Hannover-Fan, der nicht in Hannover wohnt, der als Student auch nicht das Geld hat, um immer hinzufahren, nimmt man für gewöhnlich jede Möglichkeit wahr, wenn es im preislichen Rahmen liegt. Aber noch etwas anderes spielt da hinein: die Iren treffen. Über Twitter hat man genug Kontakt zu Fans, die nach Dublin gereist sind und eine grandiose Zeit dort hatten, zusammen mit den „Saints“-Fans. Die berichten mit Glanz in den Augen (wenn man ihn in den Tweets denn erkennen kann) und großartigen Bildern.
Es steht fest, die Iren wollen sich revanchieren. Die Bilder der EURO sind noch im Kopf, ich habe irische Fans auf der Fanmeile in Berlin getroffen und den Sieg gegen Portugal gefeiert, bevor sie weiter nach Polen fuhren. Ein Jahr habe ich in Irland gelebt, kenne den Enthusiasmus, den sie ihrem Land und ihrer Mannschaft entgegenbringen. Es herrscht also Vorfreude auf beiden Seiten, Pats-Fans freuen sich auf die Reise nach Deutschland, Hannover-Fans freuen sich auf den irischen Besuch; die Geschichten aus Dublin haben sich schnell herumgesprochen.
Dazu kommt die Geschichte von dem irischen Fan, dem von 96-Fans im Forum geholfen wurde. Er half den 96-Auswärtsfahrern, billige Pubs und Unterkünfte zu finden, wollte auch gerne nach Hannover aber konnte es sich nicht leisten. Daraufhin sammelten 96er spontan, bis sie das Geld für die Flugtickets beisammen hatten und den völlig überwältigten jungen Mann damit überraschen konnten.
Die Einstellung ist generell sehr positiv geprägt vor dem Duell, es entwickelt sich eine kleine Fanfreundschaft heraus. Dabei spielt auch Twitter eine große Rolle, es verbindet beide Gruppen miteinander.
Und hier setzt meine Geschichte wieder ein. Denn größtenteils spreche ich mit Fans, die von Dublin nach Hannover fliegen. Da kann ich auf keinen Fall behaupten, meine Anreise wäre zu weit. Und treffen will ich die Fans ja sowieso. Also hole ich mir kurzfristig noch Karten, ausverkauft wird das Stadion für das Spiel ja auf keinen Fall, und plane die Fahrt mit meinem Bruder. Von den Eltern auf Fehmarn soll es nach dem Spiel nicht etwa nach Hause, sondern nach Berlin, in die zweite Heimat. Das gestaltet sich als entsprechend schwierig zu planen, denn nach Abpfiff fährt kein Zug mehr in die Hauptstadt. Das war aber bereits in der Vorsaison schon einmal das Problem, damals wurde die Nacht einfach durchgemacht. Und das, so sage ich mir, sollte doch in Kombination mit ein paar hundert irischen Fans überhaupt kein Problem sein. Gesagt, getan.
Nachmittags kommen wir in Hannover an. Es bleibt Zeit, sich mit Freunden zu treffen und im Fan-Shop das Shirt passend zur Begegnung zu kaufen, für mich und einen irischen Bekannten, für den das Bestellen im Online-Shop sonst eine Wartezeit von mehreren Wochen und überhöhte Versandpreise bedeutet hätte. In der Stadt trifft man auf viele irische Fans, die das Spiel am Donnerstagabend als Auftakt für ein langes Wochenende in Deutschland nutzen. Die Flüge nach Hause gehen am Samstag oder Sonntag von Düsseldorf oder Hamburg, da kann man die Zeit vor und nach dem Spiel auch für Shopping und Sightseeing benutzen. Und natürlich für vergleichsweise billiges Bier in der inoffiziellen irischen Botschaft, dem Irish Pub. Viel Bier.
Im Stadion gibt es das nur alkoholfrei. UEFA-Regeln. Es ist ein milder Abend, noch laufen die Olympischen Spiele. „Dabei sein ist alles.“ Das könnte auch das Motto des Spiels am Abend sein. Saints-Fans wissen, dass es nichts mehr für sie zu reißen gibt. Ein klitzekleiner Funken Hoffnung ist noch da, im Hinspiel kam man ja auch zu teils sehr guten Chancen. Außerdem wäre es ein Sakrileg, nicht dabei gewesen zu sein, beim „Wunder von Hannover“.
20:30 ist Anpfiff. Die UEFA hat keine Kosten und Mühen gescheut und passend zum Motto des Abends ein Gespann aus Aserbaidschan vorbeigeschickt. Es wird ja nichts passieren. Die Gäste werden es am Anfang der Partie probieren, ein schnelles Tor zu machen und Druck aufzubauen. Sollten sie scheitern, wird die Intensität rapide abnehmen und die Spielleitung zum Kinderspiel. Und so wird es auch. St. Pats bemüht sich, gibt ein gutes Bild von sich ab, kann die Hintermannschaft der Hannoveraner aber nie ernsthaft gefährden. Im Fanblock die Iren, die ihr Glück kaum fassen können, einmal in einem so großen Stadion zu stehen. Sitzen, UEFA-Regeln. Egal, unterstützt wird trotzdem aus Leibeskräften.
Nach einer halben Stunde das 1:0, kurz nach der Halbzeit das 2:0. Beide Innenverteidiger per Kopf nach Standardsituationen, Haggui und Eggimann. Die Tore, wie das gesamte Spiel, verschwinden nach Abpfiff im Statistikarchiv. Das Stadion ist knapp über halbvoll, noch etwas für die Statistik.
Nach dem Spiel vor dem Stadion, an der Kneipe auf der Großbildleinwand kommt noch Sport. Olympia. Diesmal zählt das andere Motto: „Höher, schneller, weiter!“ Es ist Finale, Beachvolleyball der Herren. Fans, die das Stadion verlassen, schauen noch einmal hin, zusammen wird nach gemeinsamen Bangen (mehr als während des gesamten Spiels, warum hätte man auch sollen?) die Goldmedaille bejubelt.
Mein Bruder macht sich auf den Weg zum Auto, ab nach Hause. Meine Tasche liegt im Schließfach. Und ich mache mich auf den Weg zum Pub, der erste Zug geht ja erst um 5.30 Uhr. Im und vor dem Pub sind schon genügend Fans am Feiern, es gibt ja immer etwas zu feiern. Deutsche und Iren vermischen sich, tauschen sich über die wichtigen Themen der Zeit aus. Was ist besser, Bundesliga oder Premier League? (Die eigene Liga wird sehr realistisch außen vor gelassen.) Was weiß der Gegenüber vom eigenen Land; Musik, Sehenswürdigkeiten, Kultur, Bierpreise? Fragen über Fragen. Und zum Glück gibt es am Tresen immer genug Nachschub. Dass man die verabredeten Treffen eher vergisst oder nur per Zufall nachholen kann, ist beinahe logisch. Wenn dann kannte man sich ja sowieso nur von Profilbildern, wie soll man sich da angetrunken in einer Sommernacht in Hannover erkennen? Wenn man im Gespräch über bekannte Namen stolpert, strahlt man sich an und freut sich, als kenne man die Person bereits ewig. Im Verlauf des Abends wird es immer alberner, aber keinesfalls schlechter. Im Grunde ein komplett typischer Kneipenabend, nur halt mit zuvor wildfremden Fußballfans aus einem anderen Land. Und trotzdem funktionierts. Beide Seiten sind komplett glücklich mit dem Zusammentreffen.
Die Zeit vergeht wie im Flug, Glas um Glas leert sich und auch in den Reihen der irischen Fans lichten sich die Reihen langsam. Zwei Nächte in Folge Vollgas geben kann nicht jeder, auch nicht jeder Ire. So gegen 4.30 Uhr mache ich mich langsam auf in Richtung Bahnhof, vollkommen beeindruckt. Ticket kaufen und sich dann in den dunklen Zug setzen. Kurz an das Erlebte zurückdenken, glücklich einschlafen.
Warum jetzt dieses Erlebnis?
In vielen Punkten passt es nicht zu einem „echten“ Fußballerlebnis. Das Spiel war kein Topspiel, kein mitreißendes Erlebnis. Es ging um (so gut wie) nichts, da alles bereits entschieden war. Und trotzdem hat sich diese Erinnerung eingebrannt. Eine simple Erinnerung, wie harmonisch Fans miteinander umgehen können. Fans aus anderen Ländern, die sich noch nie zuvor getroffen haben und sofort auf freundschaftlicher Ebene mit einander klarkommen. Die den Beweis erbringen, dass Fanfreundschaften kein Relikt aus längst vergangenen Zeiten sind und mitnichten heute nur noch die Rivalität wichtig ist. Durch diesen Aspekt ist das Spiel für mich mein „Fußballerlebnis des Jahres“.